Vieuxtemps, Henry

Violinkonzert Nr. 5 a-Moll op. 37

hg. von Ray Iwazumi, Klavierauszug mit zusätzlicher bezeichneter Violinstimme und mit Vieuxtemps' Cadenza Nr. 1 zusätzlich in einer Fassung von Eugène Ysaÿe

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Henle, München 2016
erschienen in: das Orchester 12/2016 , Seite 59

Henri Vieuxtemps, geboren 1820, gestorben 1881, wurde zu seiner Zeit als Geiger, Komponist und Lehrer gleichermaßen hochgeschätzt. Er war es, der im Alter von gerade 14 Jahren als zweiter das Vio­linkonzert von Beethoven in Wien aufführte; Louis Spohr lobte das Geigenspiel des Knaben, Robert Schumann schrieb über ihn: „Wenn man von Vieuxtemps spricht, kann man wohl an Paganini denken“, und ho­he Anerkennung als Komponisten zollten ihm immerhin Wagner, Chopin, Berlioz oder Tschaikowski gleichermaßen. Zu seinen Schülern zählten einige der maßgeblichen, weit ins 20. Jahrhundert hinein wirkende Geiger wie Jeno Hubay, Leopold Auer oder vor allem Eugène Ysaÿe, die nun auf ihre Art noch etwas von der berühmten francobelgischen Geigenschule vermittelten, die Vieuxtemps im Anschluss an seinem Lehrer Charles de Bériot fortführte und als deren letzter eminenter Vertreter Arthur Grumiaux gelten kann. Grumiaux’ fabelhafte Einspielung des 5. Violinkonzerts von Vieuxtemps von 1964 repräsentiert denn auch die Referenzaufnahme des Konzertes schlechthin.
Vieuxtemps komponierte insgesamt sieben Violinkonzerte. Doch während Ysaÿe das erste Konzert op. 10 (1841) als sein Meisterwerk wertschätzte, haben sich bis heute vor allem das vierte op. 31 (1850) und fünfte op. 37 (1861) im Repertoire nahezu aller Geiger fest etabliert. Der Erfolg dieser beiden Konzerte beruht offenbar sowohl auf der äußerst wirkungsvoll ins Werk gesetzten Virtuosität voller Eleganz, als auch auf der bestechenden Originalität der Formanlagen. Im 5. Kon­zert leitet eine Kadenz von einem sehr ausgedehnten Kopfsatz mit zwei Themengruppen und einer Durchführung (eine Reprise fehlt) zu einem langsamen Teil, in welchem Vieuxtemps ein Thema aus Grétys Oper Lucile (1769) zitiert. Ein sich pausenlos anschließendes, sehr knappes „Allegro con fuoco“ beendet wie eine hochvirtuose Stretta das Werk.
Die vorliegende sehr verdienstvolle Ausgabe des Klavierauszugs erfüllt mit zwei beigefügten Solostimmen alle Ansprüche einer kritischen Edition der Solostimme (den Klavierauszug mit Hinweisen auf die Instrumentierung fertigte sehr kompetent Johannes Umbreit an). Sie geht auf die überlieferten Quellen zurück, korrigiert deren Fehler und Versehen und publiziert die Solostimme einschließlich der beiden alternativen Kadenzen von Vieuxtemps im originalen Fingersatz und mit sinnvollen Ergänzungen von Ray Iwazumi sowie eine Fassung der 1. Kadenz, die Ysaÿe eingerichtet hat.
In einer Einleitung berichtet Marie Cornaz über Entstehung und Aufführung des Werks durch den Komponisten, ein Kritischer Bericht von Ray Iwazumi beschreibt die Quellen und dokumentiert die editorischen Entscheidungen. Eine Vielzahl der mitgeteilten Lesarten mag interpretatorisch belanglos bleiben, aufzulisten sind sie gleichwohl. Sie verschaffen dem Benutzer das siche­re Gefühl, die beste verfügbare Ausgabe des Werks zu benutzen. Notenstich (Wendestellen!) und Druck lassen keine Wünsche offen.
Giselher Schubert