Karol Szymanowski

Violinkonzert Nr. 1 op. 35

Für Solo-Violine und Kammerensemble (1916/2020), bearbeitet von Yasutaki Inamori, Partitur

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Edition Gravis
erschienen in: das Orchester 04/2022 , Seite 70

Karol Szymanowskis grandiosem ersten Violinkonzert op. 35 kommt in der Violinliteratur sicher eine Ausnahmestellung zu. Das 1916 geschriebene Werk entstand wie die meisten der Violinkompositionen Szymanowskis in enger Zusammenarbeit mit dem Geiger Paul Kochanski, einem engen Freund, der auch die ausgedehnte Kadenz beisteuerte. Mehr und früher als fast jeder seiner Zeitgenossen – mit Ausnahme vielleicht von Prokofjew in seinem ersten Violinkonzert – bricht Szymanowski hier mit tradiertem Stil und hergebrachter Form.
Stilistisch mag das einsätzige Stück irgendwo zwischen Impressionismus und Expressionismus zu verorten sein, die harmonische Struktur ist bis in die Grenzbereiche der Tonalität erweitert. Die kurzen, eingeworfenen Bläsermotive über der pulsierenden Klangfläche des Beginns klingen wie eine Vorahnung von Messiaens Vogelstimmen, die nervöse Ekstatik der Musik lässt gelegentlich an Skrjabin denken und verströmt die pure Sinnlichkeit eines berauschenden Parfüms.
Ein Meisterstück per se ist die für ein Violinkonzert dieser Zeit sehr ungewöhnliche und an Raffinement und Farbigkeit nicht zu überbietende Instrumentierung. Zusätzlich zum großen Orchesterinstrumentarium besetzt Szymanowski zwei Harfen, Klavier, Celesta sowie nicht weniger als sieben verschiedene Perkussionsinstrumente. Da staunt man zunächst, dass sich Yasutaki Inamori ausgerechnet dieses Konzert zur Bearbeitung für Kammerensemble ausgesucht hat.
Inamori lebt in Köln und zählt zur Garde international arrivierter zeitgenössischer Komponisten der mittleren Generation. Sein Œuvre weist bislang viele Werke für kleine Besetzungen vom Solo bis zum Kammerensemble auf. Wolfgang Becker attestiert ihm „eine originelle Synthese zwischen östlicher und westlicher Musikkultur […]. Unverkennbar ist [Inamoris] Herkunft aus der musikalischen Tradition Japans. Das zeigt sich […] vor allem in großer Sensibilität für feine Nuancen der Klangfarben und Spieltechniken der Instrumente.“
Nun hat Inamori also Szymanowskis aufwändigen Klangfarbenkosmos zu einer Nonettbesetzung (Streicher ohne Kontrabass, Klavier, vier Holzbläser) plus originale Solovioline herunterdestilliert. Hier drängt sich zunächst die gleiche Frage auf wie bei Weberns berühmter (und genialer) Quintettbearbeitung von Schönbergs 1. Kammersymphonie: Geht das überhaupt? Nun ja, es geht wohl, wenn man es so gekonnt macht! Natürlich fehlt dieser Version des Konzerts von Szymanowski manches Detail, gelegentlich mag man den opulenten, gleichsam unendlichen Farbenreichtum des Originals schmerzlich vermissen. Aber insgesamt ist es Inamori erstaunlich gut gelungen, die musikalischen Strukturen abzubilden.
Naturgemäß sorgt die sparsame, solistische Besetzung für ein hohes Maß an Transparenz und ermöglicht den Spielern eine individuellere, freiere Gestaltung. Am besten, man nimmt die Bearbeitung als etwas Eigenes, Neues. Ein interessantes, insgesamt durchaus gelungenes Experiment.
Herwig Zack