Louis Glass

Violinkonzert

op. 65, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: AlbisMusic
erschienen in: das Orchester 04/2021 , Seite 64

Ein hartes Los, „Nummer zwei“ zu sein. Genauer: einen Konkurrenten neben sich zu wissen, dem man sich ebenbürtig fühlt, während die Öffentlichkeit ihn fraglos als „Nummer eins“ wahrnimmt. Solcherlei Empfindungen müssen den dänischen Komponisten Louis Glass (1864-1936) oft heimgesucht haben, denn sein Wirken vollzog sich zeitgleich mit dem des gleichaltrigen Carl Nielsen – und bisweilen in dessen Schatten. Äußerungen Glass’ aus den 1920er Jahren zeugen von seinem Bemühen, das zu beider Jugendzeit freundschaftlich-kollegiale Verhältnis wiederzubeleben und zugleich seine ästhetischen und weltanschaulichen Positionen, die sich von denjenigen Nielsens signifikant unterschieden, erkennbar zu machen.
Ebenso wie Nielsen erhielt auch Glass Kompositionsunterricht bei Niels W. Gade, daneben bildete er sich zum Pianisten und Cellisten aus, musste jedoch 1891 wegen physischer Probleme alle Hoffnungen auf eine Instrumentalistenkarriere begraben. Nach Studien in Brüssel und einer Reise durch europäische Musikzentren übernahm er die Leitung des von seinem Vater gegründeten Klavierkonservatoriums und engagierte sich in verschiedenen Kopenhagener Musikvereinen sowie als Dirigent.
Glass entwickelte eine Passion für die Musik César Francks und für die Sinfonien Bruckners, die er in Arrangements für zwei Klaviere vorstellte. Diese Einflüsse prägten auch seine Kompositionen, mit seiner 4. Sinfonie (1911) schrieb Glass die wohl „brucknerischste“ dänische Sinfonie überhaupt.
Die Gegensätze zum Konkurrenten sind deutlich: Hier der vitale, „moderne“, zugleich volksmusik-affine und als Dirigent der Königlichen Oper im Establishment gut vernetzte Nielsen, dort der introvertierte, der Theosophie zuneigende Glass, dem indes durch seine Tätigkeit für die „Musikpaedagogisk Forening“ ebenfalls große Verdienste für das öffentliche Musikleben zukommen.
Das hier erstpublizierte Violinkonzert wurde 1930 uraufgeführt. Rezensenten vernahmen damals eine „frohgelaunte, postromantische Stimmung“ und einen rückwärtsgewandten „Übergang von Nielsens herberer Tonsprache zu Gades sanften Tönen“. In der Tat muten Formaufbau und Gestus konservativ an, Glass’ Tonsprache jedoch zeigt insbesondere in ihrer Harmonik hohe Originalität.
Einem großangelegten Kopfsatz, dessen charaktervolle Themen an Elgar’sches Nobilmente gemahnen, folgen ein hochexpressives E-Dur-Adagio und ein rhythmisch raffiniertes Finale, vom Herausgeber Walter Zielke als „veritabler Slow-Fox“ charakterisiert. Die (als Zutat deutlich gekennzeichnete!) Herausgeber-Idee, diesem Satz Tambourin und große Trommel hinzuzufügen, erscheint einigermaßen befremdlich. Der Solopart stellt höchste Ansprüche, Glass’ instrumentatorisches Geschick sorgt indes dafür, dass ungeachtet der großen Orchesterbesetzung alle geigerische Virtuosität glanzvoll zur Geltung kommen kann.
Louis Glass’ Violinkonzert für den Konzertsaal zu reaktivieren bedeutet mithin keine ganz geringe Mühe. Dass es sich lohnt, steht außer Zweifel.
Gerhard Anders