Sergei Prokofiev

Violin Concertos Nos. 1 & 2 / Sonata for Violin Solo

Vadim Gluzman (Violine), Estonian National Symphony Orchestra, Ltg. Neeme Järvi

Rubrik: CDs
Verlag/Label: BIS 2142
erschienen in: das Orchester 02/2017 , Seite 65

Die Traditionalisten, die hatte der junge Prokofjew mit der Skytischen Suite „zum Teufel gejagt“, um bald darauf mit der Symphonie classique der Neoklassik zu huldigen. Ebenso konnte er in seinen Stücken der Härte der Dissonanzen mit einer eleganten Wendung zarte Lyrismen entgegensetzen, um gleich darauf die sanften Linien erneut mit widerborstigen Rhythmen auseinan­der­zuschlagen. Das Wort Zerrissenheit scheint genau passend für das Werk des russischen Komponisten zu sein. So gestaltete sich schließlich auch sein Leben. Seine Heimat verließ er 1918, als die russische Sowjetrepublik ausgerufen wurde, um ausgerechnet in der stalinistischen Sowjetunion den Weg zurückzufinden. Die beiden Violinkonzerte markieren genau diese Eckpunkte. Das erste entstand 1917, zwei Jahre nach der sky­thischen Publikumsverstörung. Das zweite folgte 18 Jahre später, als er gedanklich schon wieder auf dem Weg in sein Heimatland war, in dem der Sozialistische Realismus klar den Takt angab. Hier also das wilde Erste und dort das zur neuen Einfachheit tendierende gefälligere Zweite? Solch markante Gegensatzpaare bieten genug Potenzial für eine erfolgreiche Vermarktungsstrategie.
Doch so einfach machen es sich Vadim Gluzman und das Estonian National Symphony Orchestra unter Neeme Järvi in der vorliegenden Einspielung, die noch durch die etüden­hafte Violinsonate in D-Dur ergänzt wird, nicht. Sie setzen auf eine behutsame Transformation der Wildheit des ersten Konzerts in eine überwäl­tigende Ausdrucksvielfalt des zweiten. Dabei bleibt das kompositorische Fenster, das Prokofjew im jungen Opus 19 und mit frühlingshafter Energie aufstößt, auch beim durchaus reiferen, abgeklärteren und mit größerer Transparenz entwickelten Opus 63 weit offen.
Gluzman macht vom ersten Ton des Andantinos des g-Moll-Konzerts op. 19 an deutlich: Prokofjew war
in jungen Jahren ein Enfant terrible, ein Publikumsschreck, doch russische Motive blieben stets der Nährboden seiner Werke. Das änderte sich nie. Da ist Aufruhr im Scherzo, faszinierendes Temperament im Vivacissimo, stupende Kraft im abschließenden Allegro, doch stets scheinen traditionelle Tonfolgen durch und nie wirkt der Gesamtimpetus zerstörerisch. Zumal Järvi mit dem Estonian National Symphony Orchestra den verbindenden Rahmen für Gluzmans musikantische Kontrastdramaturgie schafft. Damit erhält das erste Violinkonzert bereits eine Reife, mit der das zweite besticht. Vor allem das Andante assai mit folgendem Allegretto des zweiten Satzes ist ein Glanzpunkt in dieser Interpretation der Werke Prokofjews. So vollendet, imaginativ und bezaubernd hat man die Lyrismen im Werk des russischen Komponisten selten gehört.
Wenn man dann von Gluzman und Järvi im Schlussallegro in die Rondoform gejagt wird, wird sie wieder wach, die Wucht des jungen Prokofjew, gepaart mit lyrischer Schönheit. Prokofjew hat diese Gegensatzpaare stets genussvoll verschmolzen – Gluzman und den Esten gelingt ein wunderbarer Blick in diesen faszinierenden, kontrastreichen und brodelnden Schmelztiegel.
Christoph Ludewig