Shostakovich, Dmitri / Gubaidulina, Sofia
Violin Concerto No. 1 op. 77 / In tempus praesens
Simone Lamsma (Violine), Netherlands Radio Philharmonic Orchestra, Ltg. James Gaffigan
In Fachkreisen hochgelobt, ist die 31-jährige niederländische Geigerin Simone Lamsma zumindest in Deutschland, was ihren Bekanntheitsgrad angeht, bislang noch nicht in die erste Reihe vorgestoßen.
Nach dieser SACD dürfte sich das ändern, denn sie offenbart hier eine starke und ungewöhnliche künstlerische Identität. Das 1. Violinkonzert von Dmitri Shostakowitsch spielte sie erstmals öffentlich im Jahr 2009, gemeinsam mit der Niederländischen Radiophilharmonie, damals unter der Leitung von Jaap van Zweden. Eben dieses Orchester begleitet sie nun auf der vorliegenden Einspielung; diesmal steht der Amerikaner James Gaffigan am Pult. Es empfiehlt sich, Lamsmas Interpretation gleich mehrmals hintereinander zu studieren, denn beim ersten Hören mag man sich über die Zurückhaltung wundern, mit der die Geigerin den ersten Satz des Werks angeht. Lamsma kultiviert einen sehr feinen, filigranen Ton, der sich anfangs und auch über weite Strecken des Satzes kaum über das Orchester erhebt. Das hat Methode und ergibt auch durchaus Sinn nicht nur aufgrund des ohnehin introvertierten Charakters der Musik.
Solistin und Orchester agieren als gleichberechtigte Partner, somit der insgesamt eher sinfonischen Anlage des Konzerts gerecht werdend. Dass Lamsma aber durchaus auch zupacken kann, zeigt sich im anschließenden Scherzo, das die Geigerin mit genau der passenden Portion Sarkasmus, gepaart mit unerbittlicher rhythmischer Prägnanz, zum Leben erweckt.
Wiederum anfangs sehr reserviert, dann aber immer leidenschaftlicher werdend, insgesamt eher meditativ als anklagend gibt Simone Lamsma der Passacaglia Gestalt, bevor sie dann in der Kadenz ihre ganze Meisterschaft entfaltet tadellos in Phrasierung, Intonation und Gestaltung der rhythmischen Elemente, sich gegen Ende fast bis zur Raserei steigernd. Ihre Interpretation bleibt auch in der abschließenden Burleske hochsouverän, vielleicht nicht so vollblütig wie die des Widmungsträgers David Oistrach, dafür die Balance haltend zwischen struktureller Übersicht, sensibler klanglicher Gestaltung und bissiger Attacke. Vom Orchester wird sie dabei mustergültig unterstützt: Das klangliche Geflecht ist adäquat aufgefächert, dankenswerterweise mit Aufmerksamkeit für die wichtigen Klangfarben von Harfe, Celesta und Tamtam im Kopfsatz. Leider neigt der Klang in den Tutti-Passagen von Scherzo und Finale ein wenig zum Verklumpen.
Zum hohen Wert der SACD trägt auch die Kopplung bei: nicht etwa ein weiteres Repertoirestück, sondern Sofia Gubaidulinas Violinkonzert In tempus praesens, bereits 2011 live aufgenommen unter Reinbert de Leeuw. Das Anne-Sophie Mutter zugeeignete Werk fordert, ohne sich avantgardistischer Spieltechniken zu bedienen, von der Solistin ein Höchstmaß an Gestaltungskraft und Stehvermögen, da ihr über die 35-minütige Spieldauer kaum Luft zum Verweilen gelassen wird. Simone Lamsma meistert auch diese interpretatorische Herausforderung mit Bravour.
Thomas Schulz