Hindemith, Paul

Viola Sonatas

Christian Euler (Viola), Paul Rivinius (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Musikproduktion Dabringhaus und Grimm MDG 903 1952-6
erschienen in: das Orchester 01/2017 , Seite 72

Warum fühlte sich Paul Hindemith zur Bratsche als Komponist und Instrumentalist hingezogen? Wir wissen, dass er alles Romantische hasste. Doch gerade die Bratsche galt im 19. Jahrhundert als Instrument für Elegien und melancholischen Ausdruck. Allerdings liegt ihr weniger die virtuose Attitüde, sie ist ein Instrument der Mitte, weder der extremen Tiefe noch Höhe. Hindemith wollte eine von allen außermusikalischen Ideen befreite, pure Musik schreiben, und das ermöglichte ihm die Bratsche als ein gleichsam neutrales Instrument, das weder Sopran noch Bass ist. Pure Musik bedeutete für ihn: Bewegung, Energie, Rhythmus und Melodie. Debussy, Bach und die Neue Sachlichkeit waren seine Bezugspunkte. Dabei hat er die Bratsche von romantischen stereotypen Vorstellungen befreit, betont ihr irdenes, etwas rauchiges Timbre, aus dem sich gewaltige Bewegungsenergien entladen. So wird sie zum Instrument des beginnenden 20. Jahrhunderts, des Maschinenzeitalters und der rauchenden Fabrikschlote.
Christian Euler und Paul Rivinius vereinigen auf ihrer neuen CD jeweils eine Solosonate und Duosonate von Hindemith aus den Jahren 1919 und 1922. Dabei zeigen sie in ihrer Interpretation Hindemiths Bratschenmusik als Ausdruck des dynamischen Lebensgefühls der beginnenden 1920er Jahre. Die beiden Musiker sind ein perfekt aufeinander eingespieltes Duo, lassen beide Instrumente in polyfoner Selbstständigkeit hörbar werden und führen sie doch zu einem gemeinsamen Spiel zusammen. Selbst in den Fortepassagen ist ihr Zusammen-Musizieren transparent. Jeder der beiden Musiker artikuliert seinen Part in aller Deutlichkeit, sodass das moderne „Durcheinander“ doch immer strukturiert erscheint.
Christian Euler erreicht es durch seine außergewöhnliche Bogenbeherrschung, einerseits das Bewegungskontinuum zu wahren, andererseits aber durch rhythmische Akzente zu gliedern. Die ruhigen Abschnitte gestaltet er mit einem klaren Ton, der natürlich erscheint, gleichsam dem Song oder Chanson nahe. Hindemiths Anweisungen, etwa „breit“, „sehr frisch und straff“ oder „langsam mit viel Ausdruck“ in der Sonate für Bratsche allein, op. 25,1 setzt Christian Euler so um, dass jeder dieser Sätze zu einem Charakterstück wird. Bewundernswürdig ist dabei die Virtuosität seines Spiels, wenn er den vierten Satz mit der Anweisung „Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache“ in einem hanebüchenen Tempo spielt, dabei allerdings die letzte Anweisung über die „Tonschönheit als Nebensache“ vernachlässigt: Auch hier klingt seine Bratsche so klar und schön wie auf der ganzen CD.
In dieser Einspielung ist die Viola ganz bei sich selbst angekommen, will weder Violine noch Violoncello sein. Euler und Rivinius spielen Hindemiths Musik mit so viel Temperament, dass sie nicht mehr als „moderne“ Musik wirkt, sondern einfach mitreißt. Was will man mehr?