Gustav Mahler

Vierte Symphonie Artur Schnabel/ Lieder aus op. 11 & 14

Rachel Harnisch (Sopran), MythenEnsembleOrchestral, Ltg. Graziella Contratto

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Schweizer Fonogramm
erschienen in: das Orchester 09/2020 , Seite 91

Die Charakteristik der 4. Sinfonie von Gustav Mahler lautet in den Worten von Theodor Adorno so: ein „Als-ob von der ersten zur letzten Note“. Diese Betrachtung kann man sehr gut auf diese ganze CD anwenden. Zum Beispiel: Der Name MythenEnsemble lässt ganz kurz an Mythen und Legenden denken, meint aber das berühmte Bergmassiv – Großer und Kleiner Mythen – in der Schweizer Region Schwyz. Weiter: Tun wir trotz spätromantisch- moderner Klangwucht Mahlers einfach mal so, als seien wir ein Sinfonieorchester. Obwohl es nur fünfzehn Personen sind: 14 Instrumentalisten und eine Sopranistin. Schließlich könnte man noch an einen Brief Mahlers erinnern, in dem er enthüllt hat, dass nicht die Thematik des ersten Satzes, sondern das Finale die Quelle des gesamten Entwurfs gewesen sei, eine Liedkomposition aus dem Jahr 1892:” Das himmlische Leben” aus “Des Knaben Wunderhorn”.
Tatsachen und Als-obs erklären auch das Programm der CD: Das Ende der 4. Sinfonie geht gleichsam über in die 5 Lieder von Artur Schnabel, dem Pianisten und Komponisten, der zu Füßen der Mythenfelsen begraben liegt und für den 2009 dortselbst ein Gedenkkonzert stattfand. Schnabel lässt in den Liedern bereits etwas anklingen, was seine spätere Nähe zu Schönberg vorbereitet hat. Seit dem Gedenkkonzert tritt das MythenEnsembleOrchestral regelmäßig mit Mahlers Sinfonien in Kammerfassungen auf. In dem informativen Booklet ist die Rede von dem „immensen Vergnügen“ der Musiker beim Interpretieren und Spielen der von Klaus Simon arrangierten „motivischen Umverteilungen und unerwarteten Klangschichtungen“. Ein immenses Vergnügen bedeutet diese musikalisch und technisch exquisite Aufnahme von 2016 in einem Züricher Rundfunkstudio auch für den Hörer.
Mahlers Vierte ist von allen seinen Sinfonien am schnellsten populär geworden. Sie hat allerdings bei ihrer ersten Aufführung 1901 in München viel Verwirrung gestiftet. Denn viele waren enttäuscht von den peinlich einfachen Themen; eine musikalische Puppenstube mit unbedarften Klängen sei das Ganze nur. Von Mahler hatten die Musikkenner „Ausgefallenes“ erwartet.
Doch was hier nach Widerspruch klingt – populär versus enttäuschend –, ist genau das Licht des Als-ob. Mahlers Werk erfordert das besonders genaue Hinhören. Zur Belohnung spürt man dann aber auch, dass das „Sehr behaglich“ (immerhin die Überschrift des Finalsatzes!) in Wahrheit ziemlich moderne Klangkühnheiten sind. Und beim Vergleich mit Originalfassungen kommen die Raffinesse des Aufbaus und das Experimentelle des Klangs in dieser Kammerfassung besonders klar heraus. Die Tempi sind in allen Sätzen derart ruhig, sodass manchmal der Abbruch der Spannung zu drohen scheint – aber nie eintritt. Denn die Instrumentalisten sind immer dicht beieinander und die Sopranistin beglückt mit reiner Tonbildung – fast wie ein Knabensopran.

Kirsten Lindenau