Werke von Brahms, Berg, Kornauth und Korngold

Vienna 1913

Kilian Herold (Klarinette), Hansjacob Staemmler (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: CAvi
erschienen in: das Orchester 5/2023 , Seite 71

1913, es ist das „Jahr“, griffiger noch, der „Sommer des Jahrhunderts“, wie Florian Illies seinen gleichnamigen Bestseller nennt. Jetzt gibt es die CD zum Buch, könnte man sagen. Doch das wäre vermutlich nicht im Sinne von Kilian Herold und Hansjacob Staemmler, wenngleich sie ihre 2022 erschienene Einspielung mit Werken von Kornauth, Berg, Brahms und Korngold schlicht Vienna 1913 betitelt haben. Und sich im Booklet zum Illies-Buch als Inspirationsquelle bekennen. Doch kann ein Silberling von knapp 60 Minuten Dauer selbstredend nicht diese Art von panoramischer Parallel-Historie bieten, wie sie Illies gelingt. Die Idee, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu präsentieren, verfolgt allerdings auch die bei der Deutschen Grammophon in Zusammenarbeit mit dem Südwestrundfunk produzierte CD. Insofern gehört sie in die Reihe von „Jahrgangs-CDs“, die in den vergangenen Jahren erschienen sind.
Den thematischen Mittelpunkt der klug zusammengestellten Musikauswahl bilden die Sonate für Klarinette und Klavier von Egon Kornauth und Alban Bergs vier Stücke für Klarinette und Klavier, jeweils im Jahr 1913 veröffentlicht. Pionierarbeit leisten die Interpreten mit Kornauths viersätziger Sonate, die nun in einer exzellenten Weltersteinspielung vorliegt. Herold und Staemmler harmonieren wunderbar, das Spiel wirkt wie aus einem Guss. Kornauth, 1891 im mährischen Olmütz geboren, zählt zum Kreis österreichischer Spätromantiker wie Franz Schmid und Joseph Marx. Seine Werke verschwanden nach 1945 weitgehend von den Spielplänen: Die Avantgarde strafte „konservativ“ schreibende Komponisten mit Missachtung. Doch 1913 galt diese Musik als „Neue Musik“, wenngleich nicht als umstürzlerisch. Weshalb Ludwig Holtmeier, Autor des aufschlussreichen Booklets, dafür plädiert, die schlichte Dichotomie zwischen „Fortschritt“ und „Rückwärtsgewandtheit“ aufzugeben. Man höre bei Kornauth progressive Elemente, wie man in der Musik der Zweiten Wiener Schule durchaus „regressive“ Züge feststellen könne. In Alban Bergs Klarinettenstücken prägen sich diese zum Beispiel in Gestalt der zyklischen Gesamtform aus. Einerseits bilden sie durch Kürze und ausdrucksstarke Dichte Musterbeispiele für musikalischen Expressionismus, andererseits erkennt Holtmeier in ihnen eine „Sinfonie“ in kondensierter Form.
Komplettiert wird die CD durch die Brahms’sche f-Moll-Sonate und zwei Lieder von Erich Wolfgang Korngold, arrangiert von Kilian Herold für Klarinette und Klavier. Die Interpretationen von Herold und Staemmler verdienen höchstes Lob, ihr nuancenreiches, leidenschaftliches und packendes Spiel setzt Maßstäbe. Die Tontechniker im Hans-Rosbaud-Studio Baden-Baden sorgen für ein transparentes Klangbild, das die Hörer:innen dicht an die Musiker rückt.

Mathias Nofze