Marius Neset

Viaduct

Marius Neset (Tenor- und Sopran-saxofon), Ivo Neame (Klavier), Jim Hart (Vibrafon, Marimba und Percussion), Petter Eldh (Kontrabass), Anton Eger (Drums und Percussion), London Sinfonietta, Ltg. Geoffrey Paterson

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Act
erschienen in: das Orchester 05/2020 , Seite 75

Es lebe die Vielfalt! Immer häufiger schleifen Musiker auf Jazzfestivals und in den Konzertsälen die Grenzen, die einst Jazz und sogenannte Klassik voneinander trennten. Dabei öffnen sich die Jazzer für ein Genre, dessen jahrhundertelange Tradition in ihrem Studium allenfalls am Rande vorgekommen ist. Dennoch nennt Marius Neset als Inspirationsquellen bei der Arbeit an seiner zehnsätzigen Suite Viaduct Olivier Messiaen, Igor Strawinsky, Béla Bartók, Gustav Mahler und den Wiener Jazzmusiker Joe Zawinul. Diese Verweise sind mehr als Namedropping: Die Einflüsse sind in dem aus Versatzstücken collagierten Werk auch hörbar.
Den britischen Grenzüberschreiter Django Bates hätte er ebenfalls nennen können. Bei ihm hat Marius Neset in den frühen 2000ern am Rhythmic Music Conservatory in Kopenhagen studiert, bevor er sich als brillanter Jazzsaxofonist und innovativer Bandleader in Jazzkreisen einen guten Namen machte. Nebenbei verließ er das Jazzfeld mehrmals, unter anderem 2015 mit dem ebenfalls mit der London Sinfonietta eingespielten Album Snowmelt. Viaduct entstand 2018 als Kompositionsauftrag des norwegischen Kongsberg Jazzfestival.
Gegliedert ist Viaduct in zwei durch eine Pause getrennte Teile; die sechs Unterabschnitte des ersten sowie die vier des zweiten Teils gehen nahtlos ineinander über, sind aber durch eigene Marker direkt ansteuerbar. Der aus der Fülle der von Neset genannten Inspirationsquellen ablesbare Eklektizismus spiegelt sich in dem 67-minütigen Werk. Der Mix sorgt für stete Abwechslung, für eine Vielfalt an Klangkombinationen, für eine kurzweilige Entdeckungsreise durch Spielarten der Kammermusik, wobei Neset nicht zitiert, sondern sich nur andeutungsweise anlehnt.
Gestützt von einer Morsesignalen ähnlichen Bass- und Schlagzeugfigur bietet der erste Satz „Viaduct Part 1a“ ein filmmusikalisches Blumenmeer und Krimispannung. Die folgenden Abschnitte bis „Part 1f“ bringen die Melancholie von Sologeige und Orchester, das akustische Abbild einer Verfolgungsjagd, heitere, romantische und idyllische Momente, Anklänge an Balkanmusik, Tänzerisches und eine Rückkehr zum Motiv der Morsesignale.
War der erste Teil auf die Integration von Jazzquintett und Kammerorchester angelegt, bringen die vier Abschnitte von „Part 2“ eher ein Hin und Her. Nun stehen Tenor-
saxofon-, Vibrafon-, Piano- und Kontrabass-Soli auf der Jazzseite den Orchesterklängen gegenüber. Erinnerungen an das Modern Jazz Quartet kommen hoch. Es gibt Bezüge zur Berliner Revuemusik der 1920er Jahre, Streicherglanz und -pizzicati, energischen Post-Free-Jazz, wie Regentropfen aus dem Flügel getupfte Töne, Orchestersehnen und -flirren, federnde Jazzrockrhythmen. Der zweite Teil ist noch deutlicher von tradierten Stilen inspiriert als der erste. Diese Fülle und die von Scheuklappen freie, spielerische Interpretation verleihen Viaduct einen eigenen, an Überraschungen reichen Charme.
Werner Stiefele