Widmann, Jörg

Versuch über die Fuge

5. Streichquartett mit Sopran

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: das Orchester 01/2010 , Seite 72

Jörg Widmann ist derzeit nicht nur als Klarinettist, sondern auch als Komponist sehr gefragt. Seine Werke werden von den großen Orchestern uraufgeführt und im Repertoire verankert und erhielten bereits zahlreiche Preise. Und so wie dem ausübenden Musiker der Bezug zur zeitgenössischen Musik wichtig ist – Widmann ist Widmungsträger zahlreicher Klarinettenkonzerte –, so geht es dem Komponisten um Aufführbarkeit, ja um die musikantische Komponente seiner Werke.
Hierin bildet auch sein fünftes Streichquartett keine Ausnahme. Schon im einleitenden Ruf der Sopranistin, die zu den vier Instrumentalisten hinzutritt, erzeugt Widmann eine neugierig machende Grundspannung. Das prägnante „Vanitas vanitatum“ des Soprans mag man als Motto begreifen – oder als markerschütternden Weckruf zu einem gut 25-minütigen Werk, das mal Variationszyklus, mal rhapsodische Annäherung an die Fuge und mal spielerische Auseinandersetzung mit der strengsten aller möglichen kompositorischen Formen ist.
Widmann gelingt es dabei, durch eine fast bildhafte musikalische Sprache, durch kraftvolle Klänge und kantige Akzente Spannung aufzubauen und diese auch zu halten. Der Komponist nutzt dabei fast die gesamte Klangpalette der vier Streicher und der menschlichen Stimme aus. Die Sopranistin singt nicht nur lateinische (und ganz am Schluss auch kurz deutsche) Bibelverse; sie ist vielmehr Echo der Instrumente, sie summt und deklamiert, sie erzählt und blüht auf. Und das alles geschieht vor einem instrumentalen Hintergrund, der extrem vielschichtig ist, reich durchstrukturiert und an vielen Stellen dramatisch aufbraust.
Ein wesentlicher Reiz des fünften Streichquartetts von Jörg Widmann besteht darin, dass der Komponist nicht nur in der Lage ist, auf engstem Raum strukturelle Gegensätze zu entwerfen, sondern dass er diese dann auch noch durch enorme klangliche Kontraste anzureichern versteht. Da liest sich die Partitur dann auf der einen Seite wie ein ganz klassisch notierter, sehr übersichtlicher Kanon, bevor man es ein paar Takte später mit rasanten Streicherfiguren und heftigen Ausbrüchen zu tun bekommt. Lied und Rezitativ, Choral und Sinfonie – all das kann Widmann in seinem Werk vereinen, das an vielen Stellen vor Ideen geradezu zu bersten scheint.
Dass die Aufführung einer solch prägnanten, vielschichtigen und dazu noch hochvirtuosen Musik großer Künstler bedarf, ist einleuchtend. Juliane Banse und das Artemis Quartett, die diese Komposition in Auftrag gegeben und vor gut vier Jahren auch aus der Taufe gehoben haben, dürften dafür die richtigen Voraussetzungen haben. Juliane Banse hat das am Ende eines fünfteiligen Streichquartett-Zyklus stehende Werk zudem bereits eindrucksvoll eingespielt – ein weiterer Beweis, wie erfolgreich Jörg Widmanns musikalischer Ansatz ist und wie unmittelbar wirkungsvoll seine Sprache ist.
Daniel Knödler