Frei, Marco

Vernetzen und gemeinsam gestalten ?

Wie Frankfurt am Main Modellstadt für musikalische Bildung werden möchte

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 11/2012 , Seite 38
Gerade in der musikalischen Bildung wird zusehends auf Vernetzung gesetzt. Nun hat Frankfurt am Main verkündet, Modellstadt für musikalische Bildung werden zu wollen. Doch was steckt dahinter? Wer ist eingebunden – und wie? Welche Rolle übernehmen die großen Namen der Frankfurter Klassik-Szene?

Zugegeben, auf den ersten Blick erscheint das Vorhaben recht ehrgeizig und selbstbewusst – vielleicht auch ziemlich gewagt. Wer aber weiß, dass in Frankfurt am Main für deutsche Verhältnisse schon frühzeitig die musikalische Bildung ganz groß geschrieben wurde, für den ist es nur folgerichtig und konsequent, dass die Mainmetropole deutsche Modellstadt für musikalische Bildung werden möchte. Bereits in den 1970er Jahren wurde bei der Stadt ein gesondertes Budget für Musikvermittlung und Konzertpädagogik eingerichtet, was in Westdeutschland in dieser Form eine Besonderheit ist.

Standortvorteile
Eine Besonderheit ist auch, dass dieses Extrabudget bis heute aus den 1970er Jahren herübergerettet werden konnte. Noch dazu ist man in Frankfurt am Main in Sachen Kooperationen im Klassikleben wesentlich weiter und fortschrittlicher als anderswo, und zwar auf allen Ebenen. So hatte das Bundesland Hessen – genauer gesagt das Kultusministerium – der Stadt Frankfurt vor zirka fünfzehn Jahren ein ausgemustertes Fahrzeug geschenkt, das als gelbes Musikmobil durch die Stadt kurvt – für Kinder und zur musischen Weiterbildung von Lehrern.
Zuletzt hatte zudem im Herbst 2011 die neue Biennale “cresc…” für zeitgenössische Musik gezeigt, dass auch die Klangkörper in der Stadt eng zusammenrücken und sich nicht – wie so häufig – misstrauisch beäugen oder gar bekriegen. In diesem Fall arbeiteten das hr-Sinfonieorchester sowie das Ensemble Modern zusammen, beide sind auch bei dieser Initiative dabei. Zugleich ist Frankfurt am Main neben Hamburg die stiftungsreichste Stadt Deutschlands, was für die finanzielle, wirtschaftliche Realisierung dieses ehrgeizigen Vorhabens zentral ist.
Zwar hat es schon zuvor Gedankenspiele zu einem Modellstadt-Projekt gegeben, konkret ging es aber 2011 los – mit der Gründung des so genannten “Vierklang Frankfurt”. Dahinter verbergen sich die vier musikpädagogischen Institutionen der Stadt, nämlich das Konservatorium Dr. Hoch, die Musikhochschule, die Jugendmusikschule Bergen-Enkheim sowie die Musikschule Frankfurt. Diese haben sich Anfang 2012 mit den Akteuren des städtischen Musiklebens, den beteiligten Dezernaten der Stadt, den mitwirkenden Stiftungen und Förderern sowie den verschiedenen Institutionen aus dem Bildungs- und Sozialbereich zu einer Tagung getroffen.
Zuvor wurde mit Hilfe der Stiftung Polytechnische Gesellschaft eine Vorstudie über die musikalische Landschaft in Frankfurt erstellt und durchgeführt. Sie hat alles zusammengetragen und aufgelistet, was es in Frankfurt für Initiativen im Bereich der musikalischen Bildung gibt. “In der Studie wurde festgestellt, dass im vorschulischen Bereich noch etliche Entwicklungsmöglichkeiten vorliegen, hat jedoch auch die Landschaft in Frankfurt als sehr reichhaltig erlebt und dargestellt”, berichtet Christoph Gotthardt, Leiter für Musikvermittlung und Konzertpädagogik bei der Stadt Frankfurt. “Frankfurt sei prädestiniert dafür, Modellstadt für musikalische Bildung zu werden.”

Motivation und Ziele
Allerdings gab es in Frankfurt bislang wie anderswo eine große Schwachstelle: Es gab bisher kein übergreifendes Konzept. Viele Initiativen standen einzeln nebeneinander, weswegen Anfang 2012 eine große Tagung mit allen Beteiligten durchgeführt wurde, deren Motto lautete: “Musik für alle”. Dabei wurde einerseits die “Landkarte der musikalischen Bildung in Frankfurt” sondiert und diskutiert, die in der Studie der Polytechnischen Gesellschaft erstmals skizziert worden war, um daraus ein gemeinsames Konzept zu eruieren; andererseits wurden konkrete Ziele formuliert.
Demnach soll jedes Kind in Frankfurt spätestens ab dem Kindergartenalter einen “wohnortnahen Zugang zu einem adäquaten, qualifizierten und bezahlbaren musikpädagogischen Angebot” erhalten. Zudem sollen Singen und Musizieren “Teil des aktiven Lebens der Bürger aller Altersstufen und Bevölkerungsgruppen und somit der ganzen Stadt” werden. “In einer so gestalteten Stadtgesellschaft kann aktives gemeinsames Musizieren zum integrierenden Bindeglied über kulturelle und soziale Grenzen hinweg für alle Generationen werden”, heißt es.
“Wenn es gelingt, dass sich das Frankfurter Musikleben mit seinen großartigen Institutionen und seiner vielfältigen aktiven Szene hinter diese Ziele stellt, dann hat Frankfurt alle Chancen, sich zur Modellstadt für musikalische Bildung zu entwickeln.” Für Christoph Gotthardt ist das große Ziel “natürlich, musikalisches Kulturgut zur Verfügung zu stellen für den Einzelnen, alle Schranken, die vorhanden sein können, zu beseitigen, und den direkten Kontakt zur Kultur herzustellen”.
Dazu gehöre auch das eigene Musikmachen. “Das würde ich nicht trennen, das gehört zueinander”, so Gotthardt weiter, “dass man über die Begegnung mit Kultur selber zum Kulturträger wird und anfängt, Musik zu machen.” Angesichts des achtjährigen Gymnasiums, den Diskussionen um Ganztagsschulen, den veränderten Familienverhältnissen mit immer mehr Alleinerziehenden und hoffnungslos überfüllten Lehrplänen ist das heute nicht mehr selbstverständlich: Für Musik bleibt immer weniger Zeit.
“Dass die Musik sozusagen zu ihrem Recht kommen kann und muss, das gilt über Frankfurt hinaus”, betont Gotthardt, aber: “Gerade in Frankfurt haben wir eine Menge an Kulturanbietern, die sich zunehmend kooperativ entwickeln und sich wie ein Mosaik zusammensetzen. Man versteht sich nicht als Konkurrenz, sondern versucht, Dinge neu zu kreieren, die noch nicht da sind – gemeinsam.” Tatsächlich sind alle großen Namen des Frankfurter Musiklebens vertreten.

Wer und was
Die Oper Frankfurt ist genauso dabei wie die Alte Oper, der Hessische Rundfunk oder das Ensemble Modern. Auch die Crespo Foundation zählt zu den “Big Playern” dieses Vorhabens, sie unterstützt das Projekt “Primacanta – Jedem Kind seine Stimme”. Seit vier Jahren wird diese Lehrerfortbildung an Grundschulen in Frankfurt und Offenbach angeboten, und seit August 2012 ging es in die Fläche und auch Lehrer und Kinder in den Landkreisen Main-Taunus und Hochtaunus werden singend für die Musik gewonnen.
Denn schon im Schuljahr 2011/12 haben über 170 Grundschullehrer mitgemacht, und im Sommer gab es beim Chorfest in Frankfurt einen Auftritt mit über tausend Chor-Kindern. Zudem betont Gotthardt den Bereich der Konzertpädagogik: “Hier haben wir wirklich ganz hervorragende Voraussetzungen”, unter dem neuen Intendanten bringe sich auch die Alte Oper ein. “Sie ergänzen jetzt den letzten Baustein, der uns noch gefehlt hat”, so Gotthardt. “Sie haben die Kleinkinder mit ins Boot geholt.”
Wenn man sich sonst die Situation in Deutschland in diesem konkreten Bereich anschaue, so Gotthardt weiter, sei dies “ja eher wenig” vorhanden. “Werden Kindergartenkonzerte angeboten, dann nur mit einer kleineren Publikumsgröße. Bei uns sitzen jedoch 500 Kinder im Konzert.” Auch im großen Saal der Alten Oper wurden solche Formate bereits veranstaltet. “Die Besonderheit, die wir hier haben, ist die Verbindung zu den Kindergartenverwaltungen. Da sitzen Menschen, die musikalische Bildung für wichtig halten, weil sie sie selber noch hatten.”
Diese hätten bei den Kindergärten durchgesetzt, dass diese Reihe gefördert werden und überhaupt entstehen konnte. Der Hessische Rundfunk knüpfe wiederum mit seinem Format “Junge Konzerte” ab der fünften Schulklasse an, so Gotthardt, wohingegen im Rahmen der internationalen Akademie des Ensemble Modern auch Schulkontakte angedacht seien – aber nicht im großen Rahmen. Und schließlich unterhält die Stadt selber konzertpädagogische Reihen – und das seit über dreißig Jahren.
“Das gibt es kaum in einer anderen Stadt in Deutschland”, sagt Gotthardt. “Durch diese Formate kommen rund 6000 Kinder pro Jahr in die Konzertsäle. Wenn das jedes Jahr passiert, wirkt sich das natürlich auch in die Gesamtlandschaft aus.” Und so bleibt ein Fazit: Auch wenn es einzelne Projekte auch andernorts gibt, ist in Frankfurt das Besondere, dass sich zu einem bestimmten Sachgebiet Kräfte an einem großen Ort flächendeckend zusammensetzen und bündeln – über Grenzen von Institutionen oder Befindlichkeiten hinaus.

Zwischenbilanz
Genau dies ist ein großes Vorbild für andere deutsche Städte. Während nämlich woanders jeder sein eigenes Süppchen kocht, geht man in Frankfurt am Main gemeinsame Wege. So kann auch Gotthardt insgesamt eine sehr positive Zwischenbilanz ziehen: In der kurzen Zeit sei bereits viel erreicht worden, Gotthardt spricht von einer positiven Grundstimmung. “An bestimmten Punkten aber müssen wir noch weitergehen, im frühkindlichen Bereich etwa, im Kindergarten sowie dort, wo es um benachteiligte Schüler geht. Da müssen noch besondere Akzente gesetzt werden.”
Tatsächlich sei insgesamt die Landschaft für musikalische Bildung in Frankfurt bislang erst einmal so geblieben, wie sie ist, aber: “Durch das Modellstadt-Projekt hat sie eine andere Wertigkeit bekommen”, sagt Gotthardt. Ob man sich auch Anregungen holen wird aus dem angelsächsischen Raum, wo die Musik- und Konzertpädagogik traditionell sehr fortschrittlich und fortgeschritten ist? “Das ist noch nicht angedacht”, erwidert Gotthardt. “Die Konzertpädagogik in England ist natürlich anders ausgerichtet, weil der schulische Musikunterricht auch ganz andere Voraussetzungen hat als bei uns.”
Dabei betont Gotthardt, dass die Ensembles und Orchester in der angelsächsischen Welt generell eine “viel stärkere Rolle für die Allgemeinbildung” übernehmen müssten. “Dass wir uns mit anderen austauschen und die Szene im Blick haben, das ist ja ohnehin der Fall. Deshalb müssen wir keine Fachkräfte aus anderen Ländern holen. Wir sind da selber ganz auf dem neuesten Stand.” Auch das mag sehr selbstbewusst klingen, ist aber angesichts der jahrzehntelangen Erfahrungen in Frankfurt mit musikalischer Bildung nachvollziehbar. Man darf gespannt sein, was am Main im Rahmen des Modellstadt-Projekts noch alles ausgetüftelt wird.