Arnold Schönberg

Verklärte Nacht

für sechs Streichinstrumente op. 4, Partitur/Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Universal Edition
erschienen in: das Orchester 03/2023 , Seite 65

1965 durch Arnold Schönbergs Schüler Josef Rufer ins Leben gerufen, hat die Gesamtausgabe der Werke Schönbergs seither editorische Maßstäbe gesetzt: Oberstes Ziel war und ist, das Werk des großen Innovators für Forschung und Praxis zugänglich zu machen. Überdies wurden hier erstmals differenzierte Standards der historisch-kritischen Methode, wie sie im Zusammenhang mit Musik früherer Jahrhunderte entwickelt worden waren, auf ein bedeutendes Œuvre des 20. Jahrhunderts angewandt. Die Ausgabe wird betreut durch die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur und erscheint sowohl bei Schott als auch in der Universal Edition (UE). In mehreren Serien werden nicht allein die Werke in Versionen letzter Hand, sondern z. B. auch Frühfassungen und Bearbeitungen durch den Komponisten veröffentlicht. Uns ermöglicht diese Edition immer sowohl den Blick in die Werkstatt als auch auf das vollendete Werk.
Verklärte Nacht, von Schönberg nach einer Inspiration durch ein titelgleiches Gedicht von Richard Dehmel komponiert, lässt sich interpretieren als Simultan-Bekenntnis des Fünfundzwanzigjährigen zu seinen wichtigsten Mentoren, die zugleich das schärfste Antipodenpaar des 19. Jahrhunderts bildeten: Wagner und Brahms. Letzterem erweist Schönberg Reverenz, indem er die Form eines Streich­sextetts wählt und ausgiebigen Gebrauch von der Technik der entwickelnden Varia­tion macht. Die Idee, ein Gedicht in ein Instrumentalwerk sinfonischen Ausmaßes zu verwandeln, entspringt hingegen der Ästhetik der Liszt-/Strauss’schen Tondichtung.
Die vorliegenden Partitur- und Stimmen-Ausgaben der UE geben den Urtext wieder, wie er bereits im Band 22 der Schönberg-Gesamtausgabe publiziert wurde. Die Textunterschiede zur Erstausgabe des Berliner Verlags Dreilinden (1905) sind marginal, aber erwähnenswert: Einige wenige Ligaturen reichen im UE-Urtext weiter hinaus, während sie in der Dreilinden-Ausgabe am Taktstrich enden. Zudem finden sich im Urtext A-tempo-Angaben im Anschluss an Ritardandi bzw. Accelerandi, die in der Erstausgabe fehlen. Handelt es sich hier um „sinnvolle Ergänzungen“ der Urtext-Editoren oder hat Dreilinden Schönberg’sche Originalangaben unterschlagen? Gern erführen wir Näheres zu diesen Unterschieden. Hierzu müssten wir indes den erwähnten Band 22 bzw. den Kritischen Bericht konsultieren, denn die vorliegenden Bände enthalten leider keinerlei Anmerkungen oder Kommentare. Dies ist durchaus zu bedauern, denn ohne Zweifel lohnt der Griff zur UE-Ausgabe, wenn es um Verklärte Nacht geht: Sie enthält den authentischen Text in angenehm zu lesendem Satzbild. Noch glücklicher sind wir indes, wenn unsere Fragen nicht im Wind verhallen.

Gerhard Anders