Helen Geyer/Maria Stolarzewicz

Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen

Eine Spurensuche

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau
erschienen in: das Orchester 11/2020 , Seite 59

Jenny Fleischer-Alt und Eduard Rosé waren um 1900 Bühnenstars, gefeierte Künstler am Weimarer Hoftheater: sie eine Großherzogliche Kammersängerin, er Solocellist. Nach ihrem Rückzug von der Bühne hätte beiden ein angenehmer Lebensabend mit Privatkonzerten und Lehrtätigkeit gebührt. Doch schon Mitte der 20er Jahre begannen die Nationalsozialisten, sie und viele weitere Musiker jüdischer Herkunft zu verdrängen und zu isolieren. Weimar war ein ergiebiges Experimentierfeld für die Nazis, die hier schon sehr früh sehr fest im Sattel saßen.
Das Schicksal verfolgter und verfemter Musiker im nationalsozialistischen „Mustergau“ Thüringen war 2019 Thema eines Symposiums in Weimar sowie einer Ausstellung. Die Weimarer Musikwissenschaftlerinnen Helen Geyer und Maria Stolarzewicz haben die wichtigsten Beiträge in diesem Band versammelt. Der Untertitel „Eine Spurensuche“ deutet bereits an, dass es hier nicht um eine systematische Darstellung der NS-Kulturpolitik und ihren Folgen in Thüringen geht; im Zentrum stehen vielmehr Biografien, Lebenswerk und Leidenswege der zumeist jüdischen Verfolgten.
Ausführlich befasst sich Irina Lucke-Kaminiarz mit dem „Fall“ des Weimarer GMD Ernst Praetorius, der wegen seiner jüdischen Frau und seines Einsatzes für zeitgenössische Musik 1933 aus dem Amt gedrängt wurde. Christoph Gann leuchtet die Grautöne in der Biografie des in Meiningen wirkenden Komponisten Günter Raphael aus, der nach der „Rassen“-Ideologie der Nazis „Halbjude“ war. Obwohl er alle Register zog – von Gegenwehr bis hin zu peinlichster Anbiederung an das Regime –, erhielt er 1939 Berufsverbot. Doch er überlebte. Seine Geschichte ist mit Briefen, Fotos und Behördenschreiben gut dokumentiert. Bei vielen anderen erbrachte die Spurensuche nur Rudimente – Lebensdaten, Geburtsorte, Wirkungsstätten –, aber auch die waren es wert, in Ausstellung und Buch dokumentiert zu werden.
Flankiert werden die Biografien von Fachbeiträgen, etwa über die jüdischen Musiker im Weimarer KZ Buchenwald und über Sintiund Roma-Musiker im NS-Staat. Symposium und Buch beschränken sich nicht auf die (Musik-)Geschichte der Jahre bis 1945: Der Berliner Musikwissenschaftler Frank Harders-Wuthenow beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Verarbeitung oder Sublimierung“ mit der Holocaust-Reflexion im Musiktheater und dem Phänomen, dass Opern wie Weinbergs Passagierin erst seit wenigen Jahren für die Bühnen entdeckt werden. Matthias Pasdzierny schließlich blickt auf die Remigration von NS-verfolgten Musikern in die DDR und insbesondere nach Weimar. Groß war die Zahl der Remigranten nicht. Wie die Musikerbiografien im Buch zeigen, blieben diejenigen, die aus Nazideutschland fliehen konnten, meist in ihren Exilländern.
Jenny Fleischer-Alt und Eduard Rosé überlebten das braune Terrorregime nicht. Die Sopranistin nahm sich 1942 in Weimar das Leben. Der Cellist starb 1943 in Theresienstadt.
Frauke Adrians