Astor Piazzolla

Variations on Buenos Aires

Isabelle van Keulen Ensemble, Deutsche Kammerakademie Neuss

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Berlin Classics
erschienen in: das Orchester 7-8/2022 , Seite 67

Musikgeschichtlich gesehen gibt es vielleicht kein schöneres Scheitern als das des Tango-Nuevo-Schöpfers Astor Piazzolla, der einst nach Paris zog, um ein namhafter Komponist der Neuen Musik zu werden. Die Begegnung mit der berühmten Kompositionslehrerin Nadia Boulanger endete zunächst wohl nicht wie geplant. Sie warf ihn zurück auf seine Herkunft, den Tango, mit dem er von Hause aus nicht viel anfangen wollte.
Was sich weiter ereignete, ist bekannt: Piazzolla revolutionierte die argentinische Tanzform und schuf eine Musik – ähnlich den Barockkomponisten der Tanzsuiten –, die sich dem Tango noch verdankt, aber in klangliche Höhen gelangt, die nur im konzentrierten Zuhören angemessen nachvollzogen werden können. Die Auseinandersetzung mit der Musik Bachs, Strawinskys und Bartóks ist hör- und spürbar, dabei aber verlieren die Kompositionen nie die Haftung zum Tanz – sie grooven. Und wie. Das wird in der vorliegenden CD anders spürbar als sonst. Denn hier wurden das „Orquesta típica“ des Isabelle van Keulen Ensembles und ein größeres Kammerorchester zusammengeführt.
Unter der Leitung der niederländischen Solistin kann sich die Tonkunst Piazzollas erweitern in einem Maße, das die Knospen harmonischer Wendungen zu voller Klangblüte gelangen lässt, etwa in der Homenaje a Cordoba. Ein Experiment, das durch die präzise wie ebenso einfühlsame Bearbeitung von Christian Gerber hervorragend gelingt. Der Bandoneonist mit jahrelanger Piazzolla-Erfahrung komponierte auch eine Soloeinleitung für das Stück Oblivion.
Auf diese Art wird der Argentinier in verschiedener Hinsicht immer neu entdeckt, was seinem musikgeschichtlichen Ort zwischen den berühmten Stühlen entspricht, an dem die unterschiedlichsten Einflüsse zu einer musikalischen Met­ropole verschmelzen. Das zeigt auch das Spektrum der hier versammelten Kompositionen, das von kurzen spritzigen Stücken wie Tres Minutos de la Realidad bis zu dem großen Opus Tangazo reicht, mit dem die CD eröffnet. Ein ganz untypischer, klug ernster Piazzolla kommt da zur Geltung, in tiefen gesättigten Streichern, jenseits des Tangos der Trauer und des Feuers, um dies dann im Mittelteil zu ent­fachen und schließlich in einer gewichtigen Coda zu enden, von wahrhaft abgefahrenen Spieltechniken flankiert. Ähnlich aufregende Formabenteuer finden sich in der Fugata, die eingangs einen Tango kontrapunktisch führt, um dann in Tanzekstase umzuschlagen.
Im Abschlussstück Tangata kommt der orchestrale Klang nochmals voll zur Geltung, nicht nur laut und bunt, sondern in zarten Unterstreichungen, die Gänsehaut über den Körper jagen. Was bei dieser Aufnahme so ausgezeichnet gelingt, ist der Wechsel von Intimität solistischer Passagen und der farblichen Ausdifferenzierung im großen Spektrum des Orchesters, das die fetzigen Stellen ebenso überzeugend umsetzt wie die feinsten Klangziselierungen. Gefordert wird hingebungsvolles Hören, das aber nie enttäuscht wird, ganz im Gegenteil. Diese CD ist wie ein Partner, auf den man sich verlassen kann.
Steffen A. Schmidt