Anderson, Julian
Van Gogh Blue
for ensemble, Studienpartitur
Der 1967 geborene britische Komponist Julian Anderson arbeitete als Composer in Residence schon mit verschiedenen Orchestern im angelsächsischen Raum. Van Gogh Blue entstand 2015 in Zusammenarbeit mit dem Musikzentrum Wigmore Hall in London, das auch die Uraufführung realisierte. Die Beschreibung auf der Website des Schott-Verlags liest sich sehr anschaulich: Ausgangspunkt waren die Briefe von Vincent van Gogh. Ungeachtet der persönlichen Tragödien des Malers sind sie voll ausgelassener Fröhlichkeit, mit der van Gogh die praktischen Begleitumstände seines Schaffens behandelt: Was wird er als nächstes malen und, vor allem, welche Farben wird er verwenden? Und weiter: Die reinen Elemente seiner eigenen Kunst reflektiert auch Anderson in Van Gogh Blue. Es ist ein auffallend kontrastreiches Werk über die Freude am Klang als physikalischem Element.
Die Besetzung des Ensembles enthält neben den in den fünf Sätzen unterschiedlich postierten zwei Klarinetten noch Flöte, Harfe, Klavier sowie Viola, Violoncello und Kontrabass in einer festen, standardmäßigen halbkreisförmigen Anordnung mit dem Dirigenten im Zentrum. Die Titel der einzelnen Sätze beziehen sich auf konkrete Bilder van Goghs. Wohl nicht zufällig dominiert darin die Farbe Blau, worauf sich auch der Titelzusatz Blue beziehen dürfte.
Das Partiturbild offenbart unterschiedliche kontrastierende Satztypen neuer Musikästhetik. Sie reichen von punktuellem Stil über impressionistisch gefärbte polyrhythmische Flächen bis hin zu strawinskiesk anmutenden rhythmisch blockhaften Strukturen. Dynamisch wird ebenfalls eine große Bandbreite angestrebt: Es gibt regelrechte Tuttistellen mit heftigen Akzentuierungen, aber auch stille Passagen, in denen sehr wenig passiert. Die Wechsel der Satzbilder geschehen oft übergangslos, sprunghaft. Auch der Einfluss der Minimal Music oder Ligetis Klangpolyfonie ist spürbar, wenn z.B. bei Buchstabe F2 ein 5-töniges Pattern auf rhythmisch engstem Raum in den verschiedenen Instrumenten, aber immer derselben Lage verarbeitet wird. Es finden sich aber auch durchaus Ansätze zu melodischen Phrasenbildungen wie das Flötensolo am Anfang von Nr. 2 Les Vignobles.
Ausdrucksformen der Malerei in Musik zu übertragen ist für Komponisten schon lange eine reizvolle Aufgabe. Spätestens seit Debussys neuartiger Klangästhetik, die technischen Qualitäten des Impressionismus adäquat in Musik zu übersetzen, ist dies in der Fachwelt auch anerkannt, jenseits aller Vorwürfe oberflächlich klangmalender Illustration. Und so lassen sich auch für Andersons Partitur Elemente des musikalischen Expressionismus als zur bildenden Kunst adäquatem Stilbegriff postulieren: Wie van Gogh im Urteil der Kunstgeschichte als Vorreiter des Expressionismus gilt, finden wir einige Jahrzehnte später die Ansätze vieler zeitgenössischer Kompositionspraktiken in den Werken von Bartók, Berg, Strawinsky und anderen. Insofern reiht sich Anderson in eine hochrangig prominente Reihe von Komponisten ein, die den Ausgleich zwischen Tradition und Innovation unter Verwendung polystilistischer Techniken erstreben.
Kay Westermann