Urknall
Neue Kompositionen für Kammerorchester. Tiroler Kammerorchester InnStrumenti, Ltg. Gerhard Sammer
Eine gewitzte Idee: zum 20-jährigen Bestehen des Tiroler Kammerorchesters InnStrumenti zwanzig federgewandte Damen und Herren einzuladen, ein etwa drei Minuten langes Stück zu schreiben – mit erinnerungswürdigem Bezug auf eines dieser Jahre. Sie kamen tatsächlich zusammen: zwanzig Miniaturen, deren Bezugsjahr die Angesprochenen selbst wählen konnten.
Um der Kollektion einen Rahmen zu geben, schwangen sich die Beteiligten überdies zu zwei Gemeinschaftswerken auf. Für den Vorspann auf das Gründungsjahr 1997, daher Urknall betitelt, komponierte jede(r) eine Orchesterstimme – unter Beachtung eines vorgegebenen Formschemas. Das Finale (2018) hingegen kam zustande, indem jede(r) ein paar Sekunden „schlüssiger“ Musik beitrug.
Dass auf diese Weise Meisterstücke entstehen würden, war wohl kaum zu erwarten. Mit Verlaub: Was die multiple Verfasserschaft hervorbrachte, war wenn nicht verdorbener Brei, so doch – wie die Franzosen sagen – misslungene Soße. Hingegen fiel die Kollektion der Jahresbeiträge höchst beachtlich aus. Was umso bemerkenswerter erscheint, als ihre Urheber über den Wirkungsradius des Tiroler Kammerorchesters hinaus kaum bekannt sein dürften.
Zu den Stücken, die man sich gern ein zweites Mal anhört, zählt Fund der Himmelscheibe von Nebra in 2’23 totaler Sonnenfinsternis anno 1999 von Katharina Blassnigg (*1979). Der Himmelscheibe entspricht eine aus der Tiefe aufsteigende Klangfläche. Den Sternen gleich, die sich von der Scheibe abheben, tauchen aus ihr Motive längst verblichener Komponisten auf – zu beiläufig, um benennbar zu sein, doch bedeutsam für den wundersamen Mikrokosmos der 2’23 Spielminuten.
Isabel, die Windsbraut aus dem Jahr 2003 von Hubert Stuppner (*1944) ist ein onomatopoetisches Lehrstück: wehe, wenn sie losgelassen, die Windkräfte der Natur, aus dem Nichts entstehend und imstande, ganze Landstriche niederzulegen. Der Instrumentalklang verdünnt sich zu aufwirbelnden Flageoletts, an Geschwindigkeit und Kraft zunehmend, bis der Teufelstanz in sich zusammensinkt wie ein angestochener Luftballon.
Für seinen Jahresbeitrag 2004 wählte Arturo Fuentes (*1975) eine poetische Vorlage im doppelten Sinne: den Schritt der österreichischen Autorin Elfriede Jelinek zur Entgegennahme des Literaturnobelpreises – gleichgesetzt mit den letzten Sätzen ihres Romans Die Klavierspielerin: „Erika weiß die Richtung, in der sie gehen muss. Sie geht nach Hause. Sie geht und beschleunigt langsam ihren Schritt.“ Diesen Schritt in Tönen abzubilden – darauf muss man erst einmal kommen. Fuentes bestand den Selbsttest.
Drei Beispiele aus zwanzig mehrheitlich ansprechenden Jahresreflexen, von denen auch Helga Plankensteiners balzender Eulenvogel des Jahres 2005, Hannes Kerschbaumers Memento Sog (zur Reaktorkatastrophe von Fukushima) und Michael FP Hubers Hommage zum 500. Geburtstag von Heinrich Isaac Erwähnung verdienen. Ein ehrliches Bravo dem Tiroler Kammerorchester InnStrumenti.
Lutz Lesle