Koch, Sven-Ingo

Ungleichzeitiges/Der Durchbohrte/Die Überwindung des großen Klaffens/Les asperges de la lune/und. weit. flog

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 65732
erschienen in: das Orchester 10/2009 , Seite 69

Es ist nicht so, dass Sven-Ingo Koch musiktheoretische Überlegungen nicht ernst nehmen würde, überhaupt nicht. Nur ist der mittlerweile vielfach ausgezeichnete Komponist Jahrgang 1974 eben kein Freund von Ideologien oder gar ideologischen Grabenkämpfen. Koch, der sein kompositorisches Handwerk bei Nicolaus A. Huber, Dirk Reith, Roger Reynolds und Brian Ferneyhough in Deutschland und den USA erarbeitet hat, reagiert mit seinen Kompositionen auf die akustischen Tableaus, die ihm im Alltag begegnen, registriert aufmerksam, welche Sensationen im philosophischen Sinn gesprochen dadurch bei ihm ausgelöst werden. Seine kompositorischen Konsequenzen zieht er daraus, indem er ungeniert ins musikalische Material aller Epochen und Stile hineingreift, ohne allerdings in die Gefahrenzone des Epigonalen zu driften. Überdies existieren die Kategorien „U“- und „E“-Musik nicht in Kochs Kompositionswerkstatt.
So zeichnen sich Kochs Kompositionen dadurch aus, dass sie das scheinbar Formlose in eine dramaturgische Form bringen, nicht in epischer Breite, eher in Form von Shortstorys. Die Titel, die Koch seinen Kompositionen gibt, haben stets metaphorische Kraft, sind aber nicht im trivialen Sinn als Programm zu verstehen. Was es nun auf sich hat mit der Einheit des Uneinheitlichen in der Musik des 35-Jährigen, spiegelt die vorliegende Porträt-CD wieder, erschienen in der Edition zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats.
Am Beginn des Werkquerschnitts steht “Ungleichzeitiges” (2006) für Solo-Cembalo und Ensemble mit Pauken, Harmonium und Orgel. Peter von Wienhardt (Cembalo) und das Ensemble Polyphonie T unter der Leitung von Manfred Schreier beschreiben in ihrer Interpretation mit ausgefeilter Dynamik und Rhythmik die extremen melodisch-motivischen Verlaufskurven, die in manchem an die diskursive Anlage barocker Concerti grossi erinnern, diese aber nicht kopieren, sondern scharf pointiert anwenden. Als vokales Pendant hierzu und als Quintessenz der vier Jahre von Koch in den USA lässt sich das Werk “Die Überwindung des großen Klaffens” für sechs Sänger, Zuspielband und Live-Elektronik (2003-2004) begreifen. Wenn man so will, lässt Koch in dieser Musik kühl kalkulierte archaische Geräuschkulissen auf einen kunstvoll zerstückelten Text aus Hesiods Theogonie treffen über die Entstehung von Tag und Nacht, über die Entstehung von Bewusstsein und Traumwelt. Jenseits des Sujets geht es Koch um das Zusammenfließen scheinbar unvereinbarer Klangwelten. Die Quintessenz mag heißen: Die menschliche Stimme ist der Anfang allen Klangs, das Instrument zur Überwindung des großen Klaffens grundverschiedener Klang-Welten.
Auf struktureller Ebene ist die Orchesterkomposition “Und. Weit. Flog.” eine Fortschreibung dieses Prinzips in die Weite des Orchesterraums hinein. Gezielt am transformativen Aspekt von Gegensätzlichem arbeitet Koch in “Der Durchbohrte”. Gedanklicher Katalysator ist eine Passage über das Inferno aus Dantes “Göttlicher Komödie”. All dies ist hier in Referenzaufnahmen mit verschiedenen Ensembles, Solisten und Dirigenten, darunter auch das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der Leitung von Johannes Kalitzke, zu hören.
Annette Eckerle