Inna Klause
„Und alles mit Musikbegleitung“
Musikausübung im Gulag und in den nationalsozialistischen KZ im Vergleich
Es gibt Bücher, die formulieren ihre Idee ganz zum Schluss: „Was lässt sich nach dieser Untersuchung über das Wesen und die Bedeutung der Musik für Menschen allgemein sagen? … Dass kontextlose Musik weder Teil der Kultur noch der Barbarei sein kann, sondern ein Medium darstellt, das beliebig ge- oder missbraucht werden kann.“ Soweit die Autorin des großangelegten Forschungsberichts über die Verwendung der Musik in den Vernichtungslagern. Ob im KZ oder im Gulag – was kann man in solchen Schreckenskammern mit Musik machen? Die Antwort lautet: alles.
Da wird Musik zur Zwangsarbeit, dient vorderhand der Umerziehung, ist begleitende Instanz bei Massenmorden, aber auch Erbauung und Trostspenderin. Sie ist Tanzmusik und Marschmusik für Todesmärsche, dient einem Gaukelspiel verlogener Konzerte und ist Rhythmusinstrument für Peitschenhiebe. Sie dient als Erinnerungssegment für manche Todgeweihte und als schwarzer Engel der Vernichtung. Nicht nur zu Wagners Siegfried-Trauermarsch, sondern auch zu Lehars Lustiger Witwe ging es in die Gaskammern.
Es ist ein riesiges und furchtbares Terrain, das die Autorin in vier großen Kapiteln genauestens aufarbeitet. Die ersten zwei Kapitel beschreiben die Strukturen der Vernichtungsmaschinerien, die beiden anderen das Musikrepertoire und die Funktionen der Musik in den Lagern. Das herangezogene Material ist von schier unübersehbarer Fülle. Der gegenwärtige Forschungsstand zu diesem Thema wird benannt, dann werden Quellen verschiedenster Art herangezogen: Briefe, Zeugnisse, Aufzeichnungen, Berichte, Romane, Konzertprogramme, auch Bilder und Partituren.
Die Autorin entwickelt ein Ordnungsschema, mit dem sie unterscheidet zwischen befohlenem und selbstbestimmtem Musizieren sowie zwischen Musizierformen und Wirkungsweisen der Musik. Diese Unterteilungen zeigen sehr deutlich, wie verschiedenartig die Musikausübung in den Vernichtungslagern war. Zu den bis zur totalen Erschöpfung gequälten „Liedersingern“ gesellten sich Orchester – auch Mädchenorchester und Streichquartette – von vorzüglicher Qualität, die etwa im Stammlager Auschwitz Sonntagskonzerte gaben. In Dachau gab es ein Kommando Lagermusik, das ein großes Salonorchester umfasste. Sogar Swing und Jazz wurde an manchen Orten für die Lageraufseher gespielt.
Nach der Lektüre bleibt Betroffenheit, ein Nicht-Begreifen-Können des ganzen Geschehens. Manche der berichteten Szenen und Bilder sind kaum erträglich. Was aber auch bleibt, ist das große Verdienst, das sich die Autorin mit dieser Studie zu eben diesem Thema erworben hat. Dem Rezensenten im Gedächtnis geblieben ist vor allem ein Bild. Es zeigt ein kleines, nur zwei Oktaven umfassendes, tonloses Klavier in einem Holzkasten, das für einen Gulag-Insassen angefertigt wurde. Tonlose Musik – so könnte man das Buch auch benennen. Von Todesfugen und schwarzer Milch weiß es, leider, sehr viel zu berichten.
Winfried Rösler