Coriún Aharonián
Una carta
Ensemble Aventure, SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden, Ltg. Zoltán Peskó
Diese neun Stücke von unterschiedlichster Form, Dauer und Besetzung weisen extreme Gegensätze und Intensitäten auf. Wuchtigen Klangblöcken folgt anhaltende Stille; karnevaleske Straßenszenen wechseln mit europäischer (Eisler, Nono) und lateinamerikanischer Kampfmusik (Revueltas, Viglietti, Parra, Buarque); Tango-Klänge stehen neben rhythmischen Spielereien; Weberns Sensibilität neben Orchester-Eruptionen. Immer wieder sind es heftige Klanggesten und explosive Kontraste, die die Arbeiten von Coriún Aharonián bestimmen.
Und immer wieder liefert ein Minimum an Material mittels Wiederholung, Permutation oder Überlagerung von Tönen und Strukturen ein Maximum an Ausdruck, den die Auseinandersetzung des Komponisten mit
seiner sozialen und historischen Umgebung prägt und der ein Zeichen im lateinamerikanischen Widerstand sein will: „Kultur ist das, was die Gesellschaft widerspiegelt und was der Gesellschaft nützt. In jedem Fall vermittelt Musik Bedeutungen. Sie kann den Status quo bestätigen, negieren oder Alternativen setzen.“
Neben Botschaften besitzen die zwischen 1968 und 2006 entstandenen Werke viele Wurzeln und Identitäten. Coriún Aharonián (1940–2017) wurde als Sohn armenischer Eltern, die den Genozid von 1915 überlebt hatten, in Montevideo (Uruguay) geboren. Sein Leben und sein Schaffen waren von vielfältigen programmatischen und künstlerischen Aktivitäten und Funktionen im eigenen Land und in Europa bestimmt – der Kulturwiderstand gegen faschistische Diktaturen, gegen die Vereinnahmung der Folklore durch die Massenmedien und das Engagement für den Dialog der Kulturen war ihm wichtigstes Anliegen. Wie Henze seine Musica impura, so entwickelt Aharonián die Música pobre – Musik der armen Leute, die in vielfältigster Art auch auf der CD zu hören ist: tänzerisch, kämpferisch, visionär.
Das Stück ¿De qué estamos hablando? beantwortet in konziser Kürze, worum es eigentlich geht, mit allen Aspekten der „mestizischen Ästhetik“ des Komponisten: „äußerste Ökonomie der Mittel, beredte Pausen und signifikante Gesten indigener Tradition und täglichen Lebens Lateinamerikas, rhythmische Prägnanz und räumliche Weite bei nur wenigen mikrotonal geschärften Tonhöhen und seufzenden bis schreienden Lamento-Figuren.“
Ein Werk wie Una carta (Ein Brief) artikuliert hingegen das moderne Klangdenken Aharoniáns: Interaktion virtueller Schichten, die durchgängig vorhanden, aber nicht immer hörbar sind. Statt diskursiv angelegt zu sein, tauchen sie immer anders in Unterbrechungen, in Gruppen oder allein, vor- oder nacheinander auf. Und ihr Klangmaterial aus Populärsprache und Alltagsgestik findet sich schon im ersten Stück Gente (Leute): Turbulenz und Sinnlichkeit, Humor und Verspieltheit pur…
Für das Verständnis der Werke Coriún Aharoniáns leistet das Booklet einen unverzichtbaren Beitrag. Und die kompetenten und hochspezialisierten Interpreten leuchten die musikalische Terra incognita so wunderbar und beeindruckend aus, dass das spannende Erlebnis nicht ausbleibt!
Eberhard Kneipel