Frauke Adrians

Bayreuth: Umjubelter Notnagel

Bayreuths Festspiel-Publikum feiert einen dekorativ schlichten, aber musikalisch starken „Tristan“

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 46

> Endlich wieder Bayreuth! Das Publikum hat seine Festspiele schmerzlich vermisst – in den beiden Corona-Jahren konnten sie mal gar nicht, mal nur in stark reduzierter Form stattfinden. Und nun, im Sommer 2022, trotz weiterschwelender Covid-Pandemie: gleich fünf Premieren! Die Gäste wirkten Ende Juli fest entschlossen, die Rückkehr auf den Grünen Hügel zu feiern und sich das Fest auch nicht durch unklare MeToo-Vorwürfe – von Anonym gegen Unbekannt – vermiesen zu lassen.
Der Überschwang der Wiedersehensfreude traf am ersten Abend der Festspiele auf diejenige Premiere, der ein Ruch des Lückenfüllers anhing: Tristan und Isolde war die Produktion, die auch dann gezeigt werden können sollte, falls die großen Choropern des Rings wegen vieler Corona-Fälle ausfallen müssten, so lautete die Planung. Und wie das so ist mit Notnägeln: Oft erweisen sie sich als die zuverlässigsten. Tristan und Isolde wurden dermaßen gefeiert und schon nach dem ersten Akt mit so viel Publikums-Sympathie überschüttet, dass sich Festspiel-Chefin Katharina Wagner die Augen gerieben haben mag. Denn als sie zwei Tage zuvor das Festspielprogramm in der Online-Pressekonferenz vorstellte, war eine Prise Gönnerhaftigkeit gegenüber der Tristan-Inszenierung – der, so Wagner, „Backup-Variante“ – in ihren Äußerungen nicht zu überhören gewesen.
Regisseur Roland Schwab hat eine Inszenierung auf Bayreuths Bühne gestellt, die, um es freundlich zu sagen, niemanden irritierte und deren Symbolik sich jedermann sofort erschloss. Etwas unfreundlicher könnte man anmerken, dass Schwab und sein Bühnenbildner Piero Vinciguerra eher eine Opernbebilderung als eine Inszenierung ablieferten und sich vor allem auf eine sehr schlichte Farbsymbolik verließen. Das übernatürlich blaue Wasser des Pools, an dem Tristan und Isolde unter ebenso überblauem Himmel erstmals aufeinandertreffen, färbt sich blutrot, schließlich unheilvoll schwarz. Die Liebenden tragen Unschuldsweiß (Kostüme: Gabriele Rupprecht), die finsteren bis zwielichtigen ebenso wie die dienenden Charaktere Schwarz, König Marke konsequenterweise Schwarz-Weiß.
Das Stück vom Lieben und Sterben setzte Roland Schwab als Kammerspiel in den Weiten der Unendlichkeit in Szene oder besser: ins Dekor. Die Wasserstrudel, in denen Tristan und Isolde sich und einander verlieren, die Projektionen von Sternenhimmel, tanzenden Glühwürmchen und weißem Rauschen sind bedeutungsentleert in ihrer Übergröße. Und wenn Schwab mit zwei Liebespaaren im Kinder- und im Greisenalter bebildert, dass die Liebe oder zumindest deren Utopie zeitlos sei, ist auch dies hübsch, aber nichtssagend.
Wie gut, dass die Ausübung von Wagners Musik – so transzendent die Klänge auch sein wollen – eine zutiefst menschliche Übung bleibt. Markus Poschner und das Festspielorchester lieferten das menschenmöglich Beste ab, was man nach einer sehr kurzen Probenphase erhoffen durfte: Der Dirigent ist in einem fast schon halsbrecherischen Ring-Tausch äußerst kurzfristig für seinen Kollegen Cornelius Meister eingesprungen, der seinerseits für den für den Ring vorgesehenen, aber schwer an Corona erkrankten Pietari Inkinen einsprang. Vor Poschners Leistung und der des ebenfalls von Corona-Ausfällen gebeutelten Orchesters kann man nur den Hut ziehen; was hier an subtilen Details hervortrat, an wunderschönen Holzbläser-Soli zumal, versöhnte am Premierenabend mit dem weniger Gelungenen.
Ähnlich rauschenden Jubel wie der Dirigent und sein Orchester ernteten nach brutto sechs Opernstunden im brutheißen Bayreuth nur die Sänger der großen Rollen: Catherine Foster als kraftvolle Isolde; Stephen Gould als Tristan, dessen nicht ganz ölfreier, gegen Ende leicht angestrengt klingender Tenor Geschmackssache ist, und Georg Zeppenfeld, ohne den in Bayreuth so gut wie keine Oper mehr über die Bühne geht und der sich mit seinem wunderbaren, mustergültig klaren Bass längst den Rang eines Publikumslieblings ersungen hat. Die Szene, in der Zeppenfeld als König Marke über den Verrat Tristans – des „Treuesten der Treuen“ – sinniert, war bei der Premiere ergreifender als der Liebestod.
Viel verdienten Applaus bekamen auch Ekaterina Gubanova als nobel intonierende Brangäne und Markus Eiche als Kurwenal. Buhrufe gab es nicht einmal für das Regie-Team, obwohl – oder gerade weil – Roland Schwab und Co. weder Grenzen der Traditionalisten-Komfortzone touchiert noch die grauen Zellen des Publikums strapaziert hatten. In Zeiten der weltpolitischen und pandemiebedingten Disharmonie ist das Harmoniebedürfnis auf dem Grünen Hügel, wie es scheint, umso größer.
Im kommenden Jahr hingegen dürften die Sehgewohnheiten der Bayreuth-Besucher durchaus herausgefordert werden: Die Parsifal-Inszenierung von Jay Scheib, Professor am Massachusetts Institute of Technology, wird man nur mit Augmented-Reality-Brille verfolgen können. Parsifal-Dirigent wird Pablo Heras-Casado sein. Oksana Lyniv ist ab 2023 nicht mehr die einzige Frau, die je bei den Bayreuther Festspielen dirigiert hat: Nathalie Stutzmann soll den Tannhäuser leiten. Und Pietari Inkinen kann – falls dann nicht wieder eine hochansteckende Corona-Welle durchs Land rollt – endlich den Ring des Nibelungen dirigieren.