Günter Buhles
Ulm: „Wasser“ als Spielzeit-Motto am Theater Ulm
Zu Beginn ein Abend im Münster mit John Luther Adams’ Orchesterwerk „Become Ocean“
Ein Sonderkonzert war am Ende der ersten September-Woche im Ulmer Münster zu erleben. Das Philharmonische Orchester der Stadt unter Generalmusikdirektor Felix Bender bot in der gotischen Kathedrale ein ungewöhnliches Programm mit Werken des Barock und der Neuen Musik: Auf die erste Suite aus Georg Friedrich Händels Wassermusik folgte das über 40 Minuten dauernde Orchesterwerk Become Ocean des Amerikaners John Luther Adams, uraufgeführt im Jahr 2013 in Seattle. Als der letzte Glockenschlag des Acht-Uhr-Geläutes vom Münsterturm verklungen war, gab der Dirigent den Einsatz zur Ouvertüre der elfteiligen 1. Suite von Händels Wassermusik. Der Barock-Meister hatte diese komponiert für eine Aufführung zu einer Bootsfahrt des englischen Königs George I. im Juli 1717, bei der die königliche Barkasse von einem Schiff mit etwa 50 Musikern begleitet wurde. Natürlich passt die Wassermusik, welche neben der Feuerwerksmusik zu den bekanntesten Werken Händels zählt, auch hervorragend ins Konzertprogramm 2022/23 der Ulmer Philharmoniker, das unter dem Motto „Wasser“ mehrere verwandte Stücke bringen wird.
Mit rundem, warmem Klang wiegte sich das Orchester bei der Ouvertüre im weichen Rhythmus. Mit dem folgenden Adagio staccato und dabei dem ersten Wechsel von der Haupttonart F-Dur zu d-Moll erhielt die Musik eine besonders feierliche Aura mit lyrischem Oboen-Solo. Im folgenden Abschnitt mit den markant einsetzenden Hörnern bewegte sich die Musik – dynamische Kontraste setzend – locker trippelnd in fast tänzerischem Gestus. Über das ruhige, doch nicht zu langsame Andante und ein lebhaftes Allegro wurde die gleichsam erzählend wirkende Air erreicht, der sich ein optimistisches Minuet anschloss. Nach der eleganten Bourée und der geradezu schwungvollen Hornpipe wurde allmählich das mit Pauken und Trompeten zupackende Finale angesteuert.
Nach der barocken Eröffnung sollten in John Adams’ Become Ocean – der Titel evoziert die Gefahr steigender Meeresspiegel – drei separate Orchestergruppen im Kirchenschiff für ein räumliches Erleben der Brandung und der Tiefen des Ozeans sorgen. Das 2013 uraufgeführte Werk erhielt sowohl den Pulitzer-Preis als auch einen Grammy für die beste zeitgenössische Komposition. „Das Leben auf dieser Erde ist aus dem Meer entstanden. Während das Polareis schmilzt und der Meeresspiegel steigt, stehen wir Menschen vor der Aussicht, dass wir buchstäblich wieder Ozean werden“, heißt es. Dass dieses Konzert nicht im Congress Centrum, sondern im weiten Raum des Münsters geboten wurde, ermöglichte eine besonders treffliche dramaturgische Gestaltung. Dies betraf etwa auch den Einsatz farbiger Beleuchtungen – in Blau und in Violett –, die zwischen den Säulen und an den Wänden zwischen den gotischen Fenstern des Chorraums schimmerten.
Mit einer geradezu ätherischen Klangfläche, die sich allmählich aufbaute, begann Become Ocean. Leise Paukenwirbel, Tremoli, lang ausgehaltene Töne und Pralltriller bei den Streichern, verwandte Spieltechniken und unterschiedlich schattierte Vibrati bei den Bläsern kennzeichneten das Spiel in den drei im und um den Chorraum verteilten Gruppen. Doch die Musik dieser Elemente ist nicht starr voneinander abgegrenzt, die Abläufe fließen im ganz Stück harmonisch zusammen. Im Zentrum steht das Streichorchester, die zweite Gruppe ist das Blech, die dritte das Holz. Zu diesen Gruppen sind Perkussionsinstrumente – insbesondere Marimbas und Vibrafone, aber auch Becken und dergleichen – gestellt. Die wechselnden Schattierungen der Klangflächen vermitteln in Zeitlupenabläufen eine hohe, geradezu mesmerisierende Spannung. Die Dramaturgie profitiert auch von der besonderen Akustik des hohen Kirchenschiffs. In diesem Geschehen kam neben der Dynamik zwischen leise, ja zart und kraftvoll bis zu – nur am Höhepunkt – ohrenbetäubend laut auch ein fast tonloser Ruhepunkt zu enormer Wirkung. Es war bewundernswert, wie das normalerweise vor allem in der Oper eingesetzte Orchester unter der konzentriert sorgfältigen Leitung von Felix Bender dieses zentrale Werk des Minimalismus geradezu zelebrierte.
In den Philharmonischen Konzerten wird das Thema „Wasser“ nicht nur in La Mer von Debussy, sondern auch in einem Werk gleichen Titels des Belgiers Paul Gilson (1865-1942) aufgegriffen. Ebenso in Takemitsus I Hear the Water Dreaming, in Smetanas Moldau und Vaughan Williams’ A Sea Symphony sowie in Haydns 39. Sinfonie Tempesta di mare.
Mit einer Uraufführung wartet das Ulmer Musiktheater am 15. Dezember auf: Mit der Oper La Légende de Tristan von Charles Tournemire wird ein spannendes Projekt angepackt. Von Miniaturen bis zu virtuosen Werken orchestraler Gewalt hat der Komponist ein reiches Repertoire hinterlassen. Obwohl die Pariser Oper 1924 sein Werk Les Dieux sont morts uraufführte, kam es nie zu einer Inszenierung der 1926 fertiggestellten Tristan-Oper. Auf Basis der handschriftlichen Quellen, ediert von Michael Weiger, erweckt das Theater Ulm erstmals Tournemires Opus magnum zum Leben.