Günter Buhles

Ulm: Der Tristan-Stoff in einer französischen Ausgrabung

Uraufführung am Theater Ulm: Charles Tournemires dreiaktige Oper „La Légende de Tristan“

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 03/2023 , Seite 48

Mit der etwas hochtrabend klingenden Bezeichnung „Welturaufführung“ hat das Theater Ulm die Premiere der Oper La Légende de Tristan des Franzosen Charles Tournemire (1870–1939) angekündigt. Tatsächlich ist dieses 1926 entstandene dreiaktige Werk auf ein Libretto von Albert Pauphilet bisher noch nie auf eine Bühne gebracht worden. Auf der Basis handschriftlicher Quellen wurde es von Michael Weiger ediert. In der Donaustadt hat es der Intendant Kay Metzger in der opulenten Ausstattung von Michael Heinrich inszeniert. Die musikalische Leitung übernahm Generalmusikdirektor Felix Bender. Es spielt das Philharmonische Orchester der Stadt.
Der in Bordeaux geborene Komponist hat zwar mit dem 1924 an der Pariser Oper aufgeführten Werk Lex Dieux son morts ein weiteres Musikdrama geschrieben. Er ist jedoch zu Lebzeiten mit seiner Orgelmusik – etwa als genialer Improvisator – am bekanntesten geworden, insbesondere mit dem riesigen Zyklus L’Orgue mystique. Insofern ist er als direkter Nachfolger von César Franck zu bezeichnen. Schließlich war Tournemire als Komponist auf vielen weiteren Feldern sehr produktiv und hat auch acht Sinfonien hinterlassen. Man könnte Charles Tournemire als eine Art frühen französischen Expressionisten bezeichnen, der sich im Stil von seinen Zeitgenossen Ravel und Debussy wesentlich unterschied. In La Légende de Tristan gibt es über weite Strecken keine klare Tonalität, die Farben und Stimmungen wechseln – ähnlich wie die Taktarten und Tempi – ständig. Vor allem das Orchester in großer Besetzung ist in hohem Maß gefordert.
Tournemire hat den Tristan-Stoff in acht Bildern, die ein großbürgerliches Haus mit vielen Hausangestellten im frühen 20. Jahrhundert zeigen, anders behandelt als Richard Wagner: Statt eines kleinen gibt es einen großen Chor (Einstudierung: Hendrik Haas, Nikolaus Henseler). Hier lagern die Kriegsverletzten in blauen Uniformen, den Raum betritt Tristan im langen braunen Mantel. Die Vokalteile haben Melodien, in denen der Text klar artikuliert wird, geradezu deklamatorisch, phasenweise in einer Art Sprechgesang. Statt Arien gibt es balladenhafte Teile. Es zeigen sich Einflüsse der Gregorianik, aber die Partitur gelangt auch bis an die Schwelle der Atonalität. Die interessante Orchestermusik mit langen Zwischenspielen ist sehr farbig und differenziert, sie wird in Ulm auch perfekt gespielt.
Tristan ist ein mutiger Kämpfer, den seine Gegner ebenso wenig einschüchtern wie jedwede andere Bedrohung. Schwach wird er erst, als er sich eingestehen muss, dass er Iseut (also Isolde) liebt, ausgerechnet jene Frau, die er für seinen König zur Ehe erobert hat. Daraus ergeben sich vielfältige innere und äußere Konflikte. Im Unterschied zu Wagners Tristan und Isolde wird der das Geschehen in ganz neue Bahnen lenkende Liebestrank nicht mit Absicht und planvoll verabreicht, sondern per Zufall. Die Wirkung ist nicht die Wonne einer Liebesnacht, sondern Fatalität und Qual. Tristan stirbt einsam, erst nach seinem Tod wird er mit Iseut vereint, die ebenfalls stirbt.
Im Theater Ulm sind An De Ridder als Iseut mit leuchtendem Sopran und der Tenor Markus Francke als sich steigernder Tristan zu erleben. Dae-Hee Shin gibt König Marc baritonales Gewicht, I Chiao Shih singt mit sattem Alt die Brangien, Joshua Spink, Tenor, den Zwerg Frocin.
Die Schwäche der Oper besteht in der fast zerstückelten Dramaturgie der acht unterschiedlich langen Teile. Es bleibt abzuwarten, ob sich künftig auch andere Bühnen für dieses Stück entscheiden.