Seemann, Hellmut Th. / Thorsten Valk (Hg.)

Übertönte Geschichten – Musikkultur in Weimar

Klassik Stiftung Weimar, Jahrbuch 2011

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wallstein, Göttingen 2011
erschienen in: das Orchester 07-08/2011 , Seite 66

„Verzeih diese abstrusen Ausdrücke! Man hat sich aber von jeher in solche Regionen verloren, in solchen Sprecharten sich mitzutheilen versucht, da wo die Vernunft nicht hinreichte und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten lassen.“ Die Sätze zum Aussichtslosen wie Wunderbaren, das mit dem Schreiben über Musik verbunden ist, danken wir Johann Wolfgang von Goethe. Den Schatz gehoben hat für uns Peter
Gülke in seinem Beitrag über des Meisters Tonlehre, der in Übertönte Geschichten – Musikkultur in Weimar zu finden ist, dem aktuellen Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar.
Der Titel verspricht nicht zuviel. Erstmals seit 2007, als die Reihe startete, widmet sich ein Band komplett Fragen der Tonkunst. Anlass dafür dürfte ohne Zweifel der 2011 anstehende 200. Geburtstag von Franz Liszt gewesen sein. Sieben der 18 Beiträge befassen sich mit dem Musiker, der der Residenz an der Ilm von 1842 an bis zu seinem Tod eng verbunden war. Friedrich Dieckmann widmet sich etwa der von Liszt 1850 in Weimar durchgesetzten Lohengrin-Uraufführung und zeichnet dabei auch ein lebendiges Bild der Beziehung des Ungarn zu Richard Wagner. Axel Schröter weist nach, dass der Einfluss des bestallten Hofkapellmeisters auf den Opernspielplan vor Ort nicht so groß war, wie gemeinhin angenommen wird, und Wolfram Huschke gibt einen ernüchternden Abriss der Weimarer Liszt-Pflege. Danach zeigte die Staatskapelle dem Komponisten selbst in Zeiten die kalte Schulter, als Liszt-Enthusiasten wie Peter Raabe (1907-1920) oder Ernst Praetorius (1924-1933) an ihrer Spitze standen.
Wenn Michael Maul ein Stück Bach’sche Widmungskultur untersucht oder Christoph Hust die Rolle Hummels als Bannerträger der Formideale der Wiener Klassik beleuchtet, kommt das Wirken weiterer Größen an
der Ilm ins Bild. Illustre Farbtupfer des Bandes sind die kleine Bauhaus-Musikgeschichte von Michael Siebenbrodt und Gerd-Dieter Ulferts Exkurs zu Herkunft und Verbleib des Hammerflügels von Weimars Großherzogin Maria Pawlowna.
Die in eine ästhetische, kulturpolitische und archivkundliche Abteilung gegliederte Publikation wartet mit recht unterschiedlichen Handschriften auf. Während sich Dieckmanns Lohengrin-Essay beinahe schon wie ein Stück Literatur liest, Huschke in seinem Liszt-Beitrag den Ton des kurz angebundenen, unbestechlichen Chronisten anschlägt, erfüllen Tina Hartmann in ihren Ausführungen zu Schweitzers Oper Alceste und Beate Agnes Schmidt in ihrer Betrachtung von Reichardts Macbeth-Musik alle Parameter der ihre Zeit brauchenden Fachlektüre. Und Peter Gülke gerät bei seiner Goethe-Hommage öfter unversehens selbst in ziemlich sphärische „Sprecharten“.
Erhebliche Teile des Jahrbuchs handeln von künftig in Angriff zu nehmenden Forschungsvorhaben. Man freut sich, dass noch so viel herauszufinden ist, fragt sich aber auch, warum bislang – und einige Texte lassen das anklingen – die Weimarer Musiker, ihre Geschichte und Geschichten mehr oder weniger hintanstehen mussten.
Volker Müller