Meyer, Andreas / Christina Richter-Ibáñez (Hg.)

Übergänge: Neues Musiktheater – Stimmkunst – Inszenierte Musik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2016
erschienen in: das Orchester 01/2017 , Seite 59

Neun Beiträge, hervorgegangen aus einem Symposion im Rahmen des Kongresses „Lost & Found. Stimme – Musik – Szene“ der Stuttgarter Musikhochschule im Juni 2014, beleuchten die allgemeine Situation des aktuellen deutschen Musiktheaters oder widmen sich einzelnen Künstlern – etwa der Popsängerin Björk oder Komponisten wie Kagel und Cage – in deren Vorbildfunktion für heutige Musiktheaterproduktionen. Die Autoren sind in ihrem Tätigkeits- und Forschungsbereich vornehmlich auf Musik- und Theaterwissenschaft sowie Komposition fokussiert, aber es kommen auch Literaturwissenschaftler zu Wort, was insofern bemerkenswert ist, als diese aus einem anderen Blickwinkel die sprachliche, aber vor allem die musikalische Ebe­ne und Konzeption von Musiktheaterproduktionen oder originellen Kombinationsansätzen von Musik, Sprache und Szene beurteilen als die Musiker oder Musikschaffenden.
Den Anfang macht Jörn Peter Hiekels grundlegender Beitrag zum aktuellen Musiktheater, „Die Kunst des Übergangs“. Es folgen Artikel zu neuen Stimmqualitäten: von David Roesner über Musiktheatergesang zwischen Individualisierung und Generalisierung und von Sonja Dierks über „Björk – Inszenierte Intimität“, ein Abstecher in die Popkultur. Christa Brüstle beschäftigt sich mit „Inszenierungsformen im Konzert“, Andreas Meyer zeigt in seinem Beitrag „Imaginäres und reales Theater“, wie sich die Gegensätze zwischen Lyrik und Drama verwischen können. Eher historische Aufarbeitung betreiben Britta Hermann mit Bezügen zwischen Performancestrategien von John Cage über Ernst Jandl bis hin zu Josef Anton Riedl sowie Arne Stollberg mit einer Reflexion über „Strukturen des Rituals – Übergänge zwischen Musiktheater und Instrumentalmusik bei englischen Komponisten von Britten bis Birtwistle“. Christina Richter-Ibáñez widmet sich der Technik des Melodrams in konzertanten wie szenischen Werken von Hechtle, Kagel, Neuwirth und Rolf Riehm. Leo Dick schließlich gibt einen Einblick in „Komponierte Erinne­rungs­­arbeit“ und beschreibt den Performance-Stil im Musiktheater Ruedi Häusermanns zwischen Kleinkunst bzw. Revue und Konzertereignis als statisches Ritual. Ein weiterer Beitrag von Richter-Ibáñez fasst in „Theorie und Praxis“ Vorträge und Darbietungen während des Stuttgarter Symposiums inhaltlich und kritisch reflektierend zusammen.
Alle Beiträge sind hervorragend recherchiert und mit Notenbeispielen und Fotos dokumentiert, sodass man mithilfe von Spotify oder You- Tube etliche der besprochenen Wer­ke hörend und sehend nachvollziehen kann, was allein anhand von Beschreibungen nicht immer gelingt. Hervorzuheben wäre allerdings noch, dass eine thematische Fokussierung auf eine eher extreme, avantgardistisch ausgerichtete Ästhetik besteht. Manches daran erscheint aus heutiger Sicht allerdings weder so neu noch sonderlich extrem; auch diese Erkenntnis vermittelt die Aufsatzsammlung. Ob dies allerdings beabsichtigt war oder sich eher zufällig ergeben hat, bleibe dahingestellt. Fazit: für Musiktheaterfans unbedingt zu empfehlen.
Kay Westermann