Sascha Wegner (Hg.)

Über den Ursprung von Musik

Mythen, Legenden und Geschichtsschreibungen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Königshausen & Neumann
erschienen in: das Orchester 12/2017 , Seite 57

Das Tempo der Jetztzeit lässt grüßen: „Zwischen Bern und Köln (im ICE)“ hat der Herausgeber dieses Bandes sein Vorwort verfasst. Ganz kontrastierend wendet sich dessen Inhalt jedoch der teils tiefsten Vergangenheit zu. „Über den Ursprung von Musik“ denken die Autoren der einzelnen Textbeiträge nach, welche die Ergebnisse einer Tagung dokumentieren, die im
November 2015 an der Universität Bern stattfand. Ein interdisziplinäres Gespräch spiegeln sie wider, in dem Philosophie, Philologie, Geschichts-, Kunst-, Literatur- und Musikwissenschaft beteiligt sind, wobei sich oft in den beteiligten Personen mehrere Kompetenzen verbinden.
Nicht um die tatsächlichen Ursprünge der Musik, sondern um die entsprechenden Ursprungserzählungen geht es im Anfangsteil des Bandes. Ist Musik Gabe der Götter oder doch Menschenwerk – wobei zumal die biblische Figur des Jubal wie die antik-griechische des Pythagoras als vermeintliche Erfinder oder Entdecker in den Blick geraten? Untersucht wird die Funktion von Entstehungsnarrativen in der Musikgeschichtsschreibung (Sascha Wegner), die Rolle von Ursprungsmythen als Wesensbestimmung der Musik (Melanie Wald-Fuhrmann) und das Verhältnis von Musik, Natur und Mensch in antik-griechischen Transformationstopoi (Pauline A. LeVen in einem englischsprachigen Essay), gefolgt von einer Darstellung „frühchristlicher Vorstellungen zu Entstehung und Funktion der Psalmodie“ (Jutta Günther).
Dass eine strikte Trennung von Mythologie und Historiografie auch in der jüngeren Vergangenheit Illusion ist, zeigen die in etwa chronologisch geordneten weiteren Artikel in diesem Band, in denen die „Kunst der Geiger und Pfeifer am Beginn der Neuzeit“ vor dem Hintergrund der alten Ursprungsnarrative beleuchtet wird (Franz Körndle) oder Mythologisierungstendenzen in den späten Musikschriften des als so rationalistisch geltenden Jean Philippe Rameau ausgemacht werden (Laure Spaltenstein).
Mit wachsender Annäherung an die Gegenwart kommen auch Strategien der Selbststilisierung und der vorauseilenden Legendenbildung, ja der medial gezielten Propaganda in Sicht. Um den „Ursprungsmythos der Ballade“ bei Mickiewicz und Chopin geht es (Sophie Picard und Paula Wojcik), um Franz Brendels „Erfindung der ,Neudeutschen Schule‘“ (Dominik von Roth) oder um Ideen vom Ursprung der Kunst bei E. T. A. Hoffmann und ihre Reflexion in Jacques Offenbachs Contes d’ Hoffmann (Dominik Pensel). Nicht fehlen dürfen in diesem thematischen Rahmen Richard Wagners „Ursprungsmythen der Moderne“ (Michael Garda), doch auch das 20. Jahrhundert ist vertreten: mit Jean Cocteaus „Antiromantisme“ und seiner Wortführerschaft für die von ihm kreierte „Groupe de Six“ (Joachim Kremer) sowie mit der sendungsbewusst religiösen Ton tragenden Selbstmythisierung der Vertreter der Zweiten Wiener Schule (Michael Matter).
Gerhard Dietel