Helms, Dietrich / Thomas Phleps (Hg.)

Typisch Deutsch

(Eigen-)Sichten auf populäre Musik in unserem Land

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Transript, Berlin 2014
erschienen in: das Orchester 04/2015 , Seite 70

Während eines mehrjährigen Afrika-Aufenthalts sah ich mich mit der Aufgabe konfrontiert, auf einer internationalen Veranstaltung zusammen mit anderen Deutschen mein Land mit einem populären Tanz zu vertreten. Aber: Was ist typisch deutsch?
Diese Frage stellen sich die Autoren des vorliegenden Sammelbands, bezogen auf populäre Musik. Um es vorwegzunehmen: Diese Frage wird nicht beantwortet, sie lässt sich auch kaum beantworten. Ekkehard Jost verweist zu Recht auf das methodologische Dilemma, aussagekräftige Ergebnisse nur durch umfangreichste und daher nicht zu leistende Vergleiche mit „populären Musiken anderer Völker, Regionen, Ethnien“ erhalten zu können. Um vorschnellen Stereotypen zu entgehen, bietet sich empirisches Vorgehen an. Thomas Phleps versucht den typisch deutschen Geschmack mittels Auswertung von Chartlisten dingfest zu machen, doch bieten diese allenfalls momentane Bestandsaufnahmen, zudem sind viele nicht-deutsche Titel vertreten. Und er lässt es sich nicht nehmen, das Gebaren einiger deutscher Rockstars (Grönemeyer, Lindenberg) ohne Begründung peinlich zu finden. Da wären wir dann doch bei dem von den Autoren dieses Bandes zumeist geschmähten feuilletonistischen Ansatz.
Typisch Deutsch enthält acht überarbeitete Vorträge einer Tagung des Arbeitskreises Populärer Musik im November 2013 in Gießen. Die Auswahl ist den Forschungsschwerpunkten der Autoren geschuldet. Um nicht zu allgemein zu bleiben, ist der Anteil konkreter Musik- bzw. Textanalysen herausgehoben. Dies gilt für Hinrichs Aufsatz über „Frei.Wild“, bekannt geworden durch Proteste für deren Echo-Nominierung (die Einstufung der Band als rechtsradikale teilt der Autor nur partiell), für Heeschs präzise Ausführungen zu unterschiedlichen Arten nordisch-mythologischer Bezüge bei drei Metal-Bands und für Elfleins Klassifizierung von Männlichkeit bei Westernhagen und den „Böhsen Onkelz“. Mechthild von Schoenebeck nimmt Hausmusik in den Blick in primär historisch-ideologischem Interesse, um auf Forschungsdesiderate hinzuweisen. Sehr tragfähig erscheint der Ansatz von Barbara Hornberger, die spezifisch deutsche Ausprägung populärer Musik aus der verkürzten und beschönigenden Aneignung angloamerikanischer Vorbilder durch den gesellschaftlichen Mittelstand zu verstehen anhand der Beispiele: Teenagermusik – Rock ’n’ Roll, Neue Deutsche Welle – Punk, Deutschrap – HipHop. Auch wenn das Volkslied aus seiner Vernachlässigung langsam heraustritt, billigt Eckhardt John ihm nur zu, allein durch die Sprache deutsch zu sein, nicht durch andere Spezifika. Kaum Beachtung findet die Liedpflege in der riesigen Chorlandschaft.
Die Aufsätze dieses Bandes sind für den Leser erhellend, werden die Teilbereiche doch trotz der gebotenen Kürze tiefer ausgelotet. Der Untertitel beansprucht die Eigensichten der Referenten, daher fehlen die vielleicht naheliegendsten Gattungen für populäre Musik in Deutschland: Weihnachtslieder und Schlager (Letztere werden von Phleps gestreift).
Die Tanzgruppe in Afrika erkannte, dass es das „typisch Deutsche“ nicht gibt. Am Ende war es ein Schieber auf einen Marsch von Paul Lincke, nicht aktuell, wohl aber populär.
Christian Kuntze-Krakau