Florian Sebald

Tuttischwein, das (lat. Porcus populus musicae)

Auszug aus dem „Lexikon der orchestralen Tierwesen und ihre Charakterisierungen“, 1863-2023 ff.

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 01/2023 , Seite 44

Das Tuttischwein ist ein ausgesprochen zu bemitleidendes Wesen. Schon früh hat es sich für seinen späteren Lebensweg entschieden – und sich fortan gemästet. Vorzugsweise mit Etüden, Tonleitern, Stricharten, hohen und noch höheren Lagen, Sonaten, Konzerten, Virtuosenliteratur …
Was im Ferkelalter meist spielerisch beginnt, nimmt in der Adoleszenz des Borstentiers konkrete Formen an, um dann in den akademischen Studien am Altar Cäciliens zu münden. Dort angekommen, erschafft es sich in den weißen blankgeputzten Sälen des Elfenbeinturms der Hochkultur eine Blase der naiven Geschäftigkeit. Es trachtet nun, allein in seinem Übe-Koben, Tag für Tag seine Fertigkeiten auf dem Instrument zu vervollkommnen und wähnt sich dabei am Fuße eines Berges, den zu erklimmen es nur Zeit und bestenfalls ein bisschen Fleiß erfordere. Am Gipfelkreuz erwarte es dann eine leuchtende Karriere als gefragte Solistensau (vergl.: Solistensau, die) der internationalen Konzertpodien. Mindestens aber eine Position als Leittier einer Herde, die zu musikalischen Höchstleistungen anzuspornen es sich heimlich erträumt.
Aber ach! Der Weg ist steinig und schwer. Nicht nur, dass der Berg gefährlich schroffe Klippen und Grate hat, nein: Gar manches Mal verirrt sich das Schwein in den Wäldern der Lehrjahre an den Hängen des Hochmassivs und manch ein Mitstreiter musste schon entkräftet und enttäuscht auf halbem Wege aufgeben. Schließlich nun doch am Gipfel angekommen, stellt das Schwein fest, dass dies nur ein erster und zudem noch nicht einmal besonders hoher Vorhügel zum Hochgebirge der beruflichen Zukunft ist. Und wenn es außer Atem den von Sauer­stoffnot verschleierten Blick hebt, so sieht es hoch über sich im weichen Dunste der technischen Perfektion diejenigen, die einzuholen ihm nicht mehr möglich erscheint. Solcherart ernüchtert zieht das Schwein Bilanz und beschließt, seine sehnsuchtsvolle Kraft und seine instrumentale Leidensfähigkeit in den Dienst des Kollektivs zu stellen.
Es winkt also der Karriere als Solist ein wehmütiges Ade und wendet sich entschlossen dem Blut-Schweiß-und-Tränen-Weg zu, der es tief hinab in die dunklen Minen der Probespielvorbereitung führt. Dort nun versucht das Schwein, das nötige Rüstzeug zu erwerben, welches es in die Lage versetzen soll, durch das Nadelöhr zur beruflichen Festanstellung zu kommen: Es übt. Die immer gleichen Stücke. Immer wieder. Klassisches Konzert. Romantisches Konzert. Neuralgische Auszüge aus Orchesterwerken, die paradoxerweise allein vorzuspielen sind. Üben. Jahrelang!
Dann traut es sich: Das Schwein schreibt seine erste Bewerbung und wartet! Genügt der leicht aufgemotzte Lebenslauf, um es in die winzige Runde derer zu befördern, die eingeladen werden und spielen dürfen? Er reicht! Glücklich und stolz wirft das Schwein seinen Mozart, Haydn, Stamitz, Dittersdorf ins Gepäcknetz und begibt sich mutig und hoffnungsfroh zum Künstlereingang der Zukunft. Doch kaum hat es die Tür geöffnet, da wird es, von einem gewaltigen Sturm gepackt, in die Mitte einer Menge wie besessen übender und mit ihrem Können protzender Konkurrent:innen geworfen. Schon wird es durch lange Flure in den Vorspielsaal gepustet, und während es noch versucht, zur Besinnung zu kommen, beginnt der Korrepetitor schon mit den zwei Takten der Einleitung. Der Bogen wird hochgerissen, der erste Ton misslingt, der zweite auch …
Die Sekunden dehnen sich. Die Finger gehorchen nicht, der Bogen rutscht über die Saiten und bereits kurz vor dem zweiten Thema dröhnt ein so schneidendes wie desinteressiertes „Danke“. Ohne zu wissen, wie ihm geschieht, findet sich das Schwein in seinem Einspielzimmer wieder – der Orkan, noch Adrenalin pumpend, in den Ohren nachdröhnend. Aus. Schmachvoll sitzt es auf der Rückfahrt im Zug und sammelt die zersprengten Scherben seines Stolzes auf, bar jeder Hoffnung, sie jemals wieder zusammensetzen zu können.
Und doch – wieder und wieder wirft sich das Schwein in die Arena der Höchstleistungen, in der kein Fehler verziehen wird, in der nur der absolut perfekte Tag über den Erfolg entscheidet. Immer öfter schleichen sich realistisch-resignative Gedanken über eine alternative Karriere als Gast­ronom („Zur glücklichen Sau“) ein … Doch da, gerade wenn die Gewissheit zu obsiegen scheint, dass die Reise zum Ziel des beruflichen Strebens, der unbefristeten Festanstellung im Orchester, einfach nicht möglich ist – da läuft es plötzlich: Wie eingebuttert flutscht die Sau durch alle Runden, gewinnt das Probespiel, schliddert nahezu ungebremst durch das folgende Probejahr und schreitet am Ende unvermutet und ungehemmt dem Sonnenaufgang der orchestralen Künstlerzukunft im Orchester entgegen. Glücklich, motiviert, begeistert wirft es sich nun in das ersehnte Becken des Dienstalltags. Es saugt gierig den Odem der Kunst auf, studiert Partituren, bewundert die routinierten Kolleg:innen, übt und ist fleißig. Ja, das ist das Ziel, das sich das Schwein in langen, quälenden Jahren des Übens immer erträumt hat. Jetzt ist es angekommen.
Jedoch, mit den vorbeiziehenden Jahren schleichen sich erste Zweifel ein: „Nicht alle Kolleg:innen sind gleichermaßen begeistert“, erkennt das Schwein. „Auch könnte sich der ein oder andere besser vorbereiten“, findet das Schwein. „Dirigierende werden doch vom Publikum maßlos überschätzt“, sinniert das Schwein. „Der Kollege am ersten Pult, also das könnte ich eigentlich besser“, meint das Schwein. Ja, am Ende eines Konzerts dürfen die Bläser hinter dem Schwein einzeln aufstehen und, sich dabei stolz in die Brust werfend, beklatschen lassen. Sogar der Kollege an der großen Trommel, der nur einmal „Bumm“ gemacht hat, darf sich allein erheben. Aber das Schwein, das den ganzen Abend schwitzend im Kollektiv mit seinen Kolleg:innen schwer darum gerungen hat, zu einer einheitlichen Intonation zu kommen, technische Höchstschwierigkeiten und klangliche Ausgewogenheit mit einer Masse Mensch zu koordinieren, dabei auch noch Herzblut und Seele mit hineingegeben hat – dieses Schwein wird ganz, ganz am Ende nur mit einer winzigkleinen, gönnerhaften Geste des Dirigenten, zusammen mit dem Fußvolk seiner Streicherkolleg:innen, dem „Pöbel“, emporgebeten.
So ist es nun am Ende seiner Karriere angekommen: Es ist ein Tuttischwein.

Der Autor ist Cellist der Dortmunder Philharmoniker und regelmäßiger Dozent im Landesjugendorchester NRW.