Goehr, Alexander

TurmMusik op. 85

for two clarinets, brass and strings with bariton solo, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, London 2010
erschienen in: das Orchester 11/2014 , Seite 69

Hinter dem Titel TurmMusik verbirgt sich die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Turmbaus zu Babel. Alexander Goehr beschränkt sich dabei in ausgewählten Texten auf das Sinnbild des Turms als Ausdruck des Machtstrebens, der Anmaßung des Menschen gegenüber Gott. Den Aspekt der Sprachverwirrung, der im Alten Testament damit verbunden ist, klammert er aus. Das halbstündige Werk für Bariton und Orchester, das im Auftrag der BBC entstanden ist und 2010 in Manchester seine Uraufführung erlebte, hebt mit einem aus der Ferne kommenden unvollständig zu hörenden Ruf „Nebukadnezzar, king of Babylon am I“ an. Damit wird die Rezitation des Textes der Steinplatteninschrift von Nebukadnezar II. eingeleitet. Auf diese folgt ein erster Ausschnitt aus Franz Kafkas Text Stadtwappen, der die Sinnlosigkeit des Turmbaus reflektiert, und ein Text aus Jakob Böhmes Mysterium Magnum, in dem der Götzendienst angeprangert wird. Mit einem ausgedehnten Choralpräludium über das Himmelfahrts-Offertorium Ascendit Deus in jubilatione wird ein instrumentales Zwischenspiel eingeschaltet, bevor aus Friedrich Dürrenmatts letztem Buch Turmbau eine längere Passage zitiert wird. Ein weiterer Kafka-Ausschnitt und ein zweites Choral-Präludium schließen sich an. Die menschliche Vermessenheit nach Jessia 14, Vers 13 f. kommt zum Schluss zur Sprache.
Goehr, Jahrgang 1932, vertont diese gedankenbeladenen Prosatexte ohne dramatisierende Verstärkung in einem rezitativisch-deklamatorischen Stil. Selten wird die Semantik durch die Melodik verdeutlicht. Nur einmal ändert sich die Singweise, wenn die Rolle des Alten in Dürrenmatts Turmbau im Schönberg’schen Sprechgesangsstil dargestellt wird.
Der Orchesterpart, der klanglich durch die dreifach besetzten Blechbläser und die Tuba dominiert wird, zu denen stellenweise zwei C-Klarinetten hinzutreten, wird in seiner Vielgliedrigkeit von kurzen Motiven bzw. Phrasen geprägt, die sich zum Teil aus dem Gesangspart ergeben. Rhythmisch wird er anfangs durch sich wiederholende trommelwirbel artige Begleitfiguren belebt. Häufig bleibt es bei einer eher kommentierenden und begleitenden Funktion des Orchesters, das nur im besonders eindrucksvollen Dürrenmatt-Abschnitt klangfarbliche Akzente setzt.
Goehrs Tonsprache – er hat u.a. in Manchester bei Richard Hall, dann bei Olivier Messiaen und Yvonne Loriod studiert – hat sich nach vielen unterschiedlichen Phasen von der Zwölftontechnik bis zum Serialismus wieder der Tradition zugewandt. Die TurmMusik setzt dem Hörer keine Widerstände entgegen und löst eine reflektierende Haltung aus, die aber durch eine kontrastreichere Gestaltung etwas mehr Erlebnistiefe erzielen könnte.
Die Studienpartitur ist sehr gut lesbar. Der Gesangspart ist in der originalen englischen und einer in der Melodik und Rhythmik angepassten deutschen Fassung abgedruckt, die allerdings sprachlich schlichtweg unzumutbar ist, was die Rechtschreibung und die Grammatik betrifft, ganz abgesehen von falschen Silbentrennungen. Selbst der Abdruck des Düren­matt’schen Textauszugs im Vorspann weist Fehler auf. Ein Manko, das auch dem deutschstämmigen englischen Komponisten Goehr nicht gefallen wird. Außerdem stimmt ab Ziffer 15 die Notation der Singweise nicht überein.
Heribert Haase