Gavrilov, Andrei

Tschaikowski, Fira und ich

Erzählung meines Lebens

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Diederichs, München 2014
erschienen in: das Orchester 02/2015 , Seite 69

Mit dem überraschenden Sieg beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb 1974 begann für den jungen russischen Pianisten Andrei Gavrilov eine internationale Karriere, die durch sein Einspringen für seinen Mentor Swjatoslaw Richter bei den Salzburger Festspielen einen zusätzlichen Schub erhielt. Eine Karriere, die durch ein von der sowjetischen Kulturbürokratie verhängtes Ausreiseverbot und weitere, möglicherweise sogar lebensbedrohliche Schikanen unterbrochen wurde. Anlass waren unbotmäßige Äußerungen des Jungstars, die den Herrschenden nicht gefielen. Erst 1984 wurde unter der Ägide Gorbatschows Gavrilovs Ausreiseverbot aufgehoben, er siedelte in den Westen über.
Nun legt der gebürtige Moskauer die „Erzählung seines Lebens“ vor, die sich schwerpunktmäßig mit den Jahren 1973 bis 1984 beschäftigt, wobei er das Buch eine „Autobiographie mit belletristischen Zügen“ nennt. „Der Autor versteht sich als Künstler. Wahrheit und Imagination verschränkt er im Spiel.“ Eine Lizenz für teilweise bösartige Beleidigungen und Unterstellungen, wie Garilov (und sein Ghostwriter?) sie in diesem Buch ausbreitet, das eine sorgfältigere Lektorierung verdient gehabt hätte, sollte dies indes nicht sein.
Dass er „Breschnew und seine Banditen“, die ihn drangsalierten, in sarkastischen und satirisch überspitzen Szenen geißelt, gehört zu den wenigen lesenswerten Momenten der oft geschwätzigen, mit esoterischen Untertönen versehenen Autobiografie. Die Abrechnung mit seinem Mentor und Freund Richter, von ihm „Fira“ genannt, ist eher ein Fall für Psychotherapeuten, die bei dieser „Vernichtung eines musikalischen Übervaters“ Stoff für eine Analyse hätten. Man kann natürlich Kritik an Richters Verhalten unter der kommunistischen Diktatur üben ebenso wie man den Cellisten Rostropowitsch, der als „Pinocchio“ kaum maskiert auftaucht, wegen mancher persönlicher Unzulänglichkeiten karikieren darf. Gavrilov geht aber weit darüber hinaus und lässt sich aus der Schlüssellochperspektive über Richters Homosexualität („der alte schwule Ballsaalpianist aus Jitomir“) aus. Der Versuch, das künstlerische Schaffen eines der bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts nicht nur abzuwerten, sondern als verdorben durch die Sowjetideologie abzutun, gerät nur noch peinlich. „Fingiertes Pathos“, „schmollendes Sowjet-Wagnerianertum“, jede Note von Chopin oder Mozart, die Richter je gespielt habe, sei ein „Gift, das die Seele der Musik umbringt“, und ähnlichen Unsinn mehr schreibt Gavrilov.
Der Autor gießt Hohn und Spott über fast alle seine ehemaligen Weggefährten aus. Seine Kritik an der gegenwärtigen Musikindustrie und ihren Mechanismen ist zwar in Ansätzen berechtigt, die Maßlosigkeit seiner Verdammungsurteile und die vielen beleidigenden Äußerungen über bedeutende Musiker lassen einen indes ratlos zurück.
Eine beigefügte CD mit neun Chopin-Nocturnes, aufgenommen 2013, macht nachvollziehbar, warum auch die zweite, höchst erfolgreich begonnene Karriere Gavrilovs ab den 1990er Jahren nahezu abgebrochen ist. Sein Chopin-Spiel ist manuell solide, klangfarblich eher eingeschränkt, geht zumeist kaum über ein zuverlässiges Notenreferieren hinaus.
Walter Schneckenburger