Ewa Maria Wagner

Tristan-Akkord

Roman

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Urachhaus
erschienen in: das Orchester 03/2023 , Seite 63

Als die Bratschistin Ev erfährt, dass das Orchester, dem sie seit vielen Jahren angehört, sie wegen finanzieller Kürzungen möglicherweise entlassen muss, bricht für sie eine Welt zusammen. Wie sollte sie, die bald 50-Jährige, ohne ihre Arbeit leben? Ohne ihre Musikerkolleg:innen, ohne die Orchesterstruktur, die ihr Halt gibt? Ev beginnt, sich zu fragen, warum sie eigentlich Musikerin geworden ist – und ob sie womöglich nur ihrem Vater zuliebe ihre zweite Passion, die Literatur, zugunsten der Musik aufgegeben hat. Während sie mit zunehmender Nervosität auf die Entscheidung der Orchesterleitung wartet, wandern ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit, zu ihrer Kindheit in Schlesien und zu ihrem Vater, der sein eigenes musikalisches Talent brachliegen ließ, aber dafür seine Tochter zur Musik drängte. „Du lebst ein Leben, das er sich für dich ausgedacht hat“, sagt Evs Partner Floris zu ihr. Aber welches Leben sollte sie sonst führen? Während sie scheinbar ungerührt im Orchestergraben Puccini spielt, drehen sich ihre Gedanken im Kreis: „Nach dem eigenen Willen leben, ungeachtet der Meinung anderer – wie macht man das?“
Die Bratschistin Ewa Maria Wagner hat ihre Autobiografie in ihren Debütroman einfließen lassen. Wie ihre Protagonistin stammt sie aus Schlesien und lebt heute in den Niederlanden, sie ist Orchestermusikerin und ließ ihren eigenen Vater für die Geschichte von Evs Vater Modell stehen. Und wie Ev gehört ihre Liebe nicht allein der Musik, sondern auch dem Wort, der Literatur. „Der Musik gab ich meine Seele“, meint Ev an einer Stelle, „mit Erzählungen lud ich mich auf.“ Wagners Roman ist die Geschichte einer Frau, die allzu lang den Erwartungen anderer gerecht werden wollte, die vergeblich um die Anerkennung ihres Vaters kämpfte und erst spät versteht, dass sie ihren eigenen, ganz persönlichen Weg gehen muss.
All das erzählt Wagner in einer schönen, geradlinigen Prosa voller Feingefühl, durch die immer wieder ein Hauch von Musik weht. Es geht um Familie und um familiäre Wurzeln, um düstere Ereignisse aus der Vergangenheit, um die Macht unterschiedlicher Sprachen, um Klänge und Worte und ihre Gemeinsamkeiten, wenn Ev erkennt, dass „Worte nicht nur auf konkrete Dinge verweisen, sondern wie Töne in einem Musikstück Emotionen und Ideen abbilden“. In ihrem Roman führt Wagner Musik und Literatur zusammen und entwirft gleichzeitig die Innenansicht einer Frau, die lange Zeit glaubt, zwischen den beiden Disziplinen wählen zu müssen. Erst als Ev ihrer fast vergessenen Liebe zum Schreiben nachgibt, ohne ihre Leidenschaft für die Bratsche zurückstellen zu müssen, erkennt sie, dass sich Töne und Worte aufs Wundervollste ergänzen können.

Irene Binal