Joachim Raff / August Walter
Traumkönig und sein Lieb / Sinfonie Es-Dur
Marie-Claude Chappuis (Mezzosop- ran), Swiss Orchestra, Ltg. Lena-Lisa Wüstendörfer
August Walter (1821-1896), geboren vor 200 Jahren in Stuttgart, sollte eigentlich die Konditorei seines Vaters übernehmen. Als dieser erkannte, dass der Sohn dafür nicht geeignet war, durfte er Musik studieren, zunächst bei dem Stuttgarter Hofmusiker Bernhard Molique, später im konservativen Wien. 1846 (also vor 175 Jahren) übersiedelte er nach Basel und prägte als Musikdirektor das Musikleben am Rheinknie bis zu seinem Tod vor 125 Jahren, unter anderem indem er das Konzertwesen professionalisierte und das Repertoire erweiterte, bis hin zum damals wenig bekannten Barock.
Seine einzige, fast dreiviertelstündige Sinfonie Es-Dur op. 9 entstand 1843 noch in Wien. Ähnlich wie bei seinem großen Vorbild Felix Mendelssohn Bartholdy zeigt die Musik des Jüngeren ein erstklassiges Kompositionshandwerk sowie eine Mischung aus klassischen und romantischen Elementen – wobei sich die Waage bei August Walter mehr zum Klassizismus neigt.
Die junge Dirigentin und promovierte Musikwissenschaftlerin Lena-Lisa Wüstendörfer präsentiert auf dieser neuen CD zuvor noch eine weitere Ersteinspielung. Der Komponist Joachim Raff (1822-1882) ist heutzutage etwas bekannter als August Walter und ging den umgekehrten Weg wie dieser zwischen Deutschland und der Schweiz: Geboren in Lachen (Kanton Schwyz) am Zürichsee, war er in den 1850er Jahren Assistent von Franz Liszt in Weimar. Als Liszt dort Richard Wagners Lohengrin uraufführte und später Hector Berlioz als Dirigent gastieren ließ, inspirierte das Raff 1854 zu seinem neunminütigen Werk Traumkönig und sein Lieb op. 66. Er vertonte das dezent erotische Gedicht seines Zeitgenossen Emanuel Geibel als genuines Orchesterlied, also ohne den Umweg über eine Klavierfassung und mit bildhaften Klangfarben.
Das 2018 gegründete Swiss Orchestra hat sich zum Ziel gesetzt, jene weitgehend vergessene Sinfonik aus der Schweiz, die vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert entstand, wieder auf die Konzertbühnen zu bringen – in der ganzen Schweiz, aber auch darüber hinaus. Es setzt sich zusammen aus Instrumentalistinnen und Instrumentalisten der jüngeren Generation, die in der Schweiz geboren sind oder dort leben. Hier, bei Raff und Walter, kann man sehr gut hören, wie sie sich ins Zeug legen, mit kongenial klar leuchtendem Klang, der freilich immer wieder eher direkt als schön und präzise wirkt.
Lena-Lisa Wüstendörfer sorgt mit Schwung und Genauigkeit dafür, dass das Ganze zu einem Plädoyer für die „Ausgrabungen“ wird. An einigen Stellen hätte sie mehr Energie hineingeben können. Die bewährte und an Alter Musik geschulte Mezzosopranistin Marie-Claude Chappuis (aus dem zweisprachigen Kanton Fribourg) sorgt für süffige Rhetorik.
Ingo Hoddick