Albrecht Dümling (Hg.)

Torso eines Lebens

Der Komponist und Pianist Gideon Klein (1919-1945). Verdrängte Musik, Bd. 23

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: von Bockel, Neumünster 2021
erschienen in: das Orchester 10/2021 , Seite 70

Fast eine Generation ist es her, dass 1995 der von Hans-Günter Klein herausgegebene Band mit Materialien zu Gideon Klein (1919-1945) erschien. Dies geschah in der damals noch jungen Schriftenreihe des nur wenige Jahre zuvor gegründeten Vereins Musica reanimata. Es waren die Jahre, in denen endlich all jene Komponisten wieder Gehör und Aufmerksamkeit fanden, die nach 1933 gezielt verfemt, verfolgt und schließlich gänzlich vernichtet wurden. Zu ihnen zählen – inzwischen längst wohl wieder fest etabliert – Viktor Ullmann, Erwin Schulhoff und Pavel Haas.
Sie bilden indes nur die sichtbare repräsentative Spitze eines umfänglicheren und unwiederbringlichen Verlusts an Kultur und kultureller Vielfalt im Herzen Europas. Dass dann der Eiserne Vorhang zu anderen Vereinnahmungen oder einem jahrzehntelangen Vergessen führte, zeigt die nahezu perfekt organisierte Perfidität zwischen dem schönen Schein von Theresienstadt und der Rampe von Auschwitz (oder wie bei Schulhoff dem Internierungslager für Menschen mit inzwischen angenommener fremder Staatsbürgerschaft).
Gideon Klein nimmt in dem Kreis dieser Komponisten und Musiker bis heute eine Sonderstellung ein: zunächst wegen seines Alters, dann aber auch wegen seiner Werke, die ihn in Theresienstadt als den „begabtesten“ ausweisen sollten. Tatsächlich handelt es sich bei den dank Voraussicht und glücklicher Umstände überlieferten Partituren um großartige Versprechungen auf Zukünftiges, darunter das Streichquartett op. 2 (1940), die Klaviersonate (1943) und das Streichtrio (1944). Den äußeren Lebensumständen ist es geschuldet, dass sich kein größer besetztes Werk ergab.
Die nun im Druck erschienenen Texte über Gideon Klein, sein Leben, Schaffen und Wirken gehen auf eine Tagung zurück, die aus Anlass seines 100. Geburtstags im Staatlichen Institut für Musikforschung 2019 stattfand und den Stand der Forschung wie auch der Rezeption in 14 Beiträgen zusammenfasst. Der weit gespannte Bogen geht aus von den Stationen der Biografie, versucht Gideon Klein als Pianist und Interpret zu greifen, ordnet einzelne Werke im gattungsspezifischen oder auch nur individuellen Kontext ein und berührt darüber hinaus Fragen aktueller Vermittlungsformen (auch wenn dies nur als Momentaufnahme erscheint).
Dass allerdings schon heute auf eine „Editionsgeschichte“ zurückgeblickt werden kann, darf dann doch verblüffen. Man sollte die kritischen Gedanken von Tilman Kannegießer-Strohmeier am besten zweimal lesen. In einstigen Materialien wurden gerade einmal neun (!) und zudem auch erst geplante Einspielungen der Werke Kleins verzeichnet. Darauf konnte nun verzichtet werden – nicht allein wegen der heute verfügbaren Online-Ressourcen, sondern auch aufgrund der zahlreichen verfügbaren Produktionen.
Der Ladenpreis des Buchs ist (wenn man so will) sensationell – und wird hoffentlich dazu beitragen, dass das Interesse an Gideon Klein und allgemein an der „Verdrängten Musik“ Reichweite erzielt.
Michael Kube