Gustav Mahler / Alexander von Zemlinsky

Titänli. Erste Symphonie / Maiblumen blühten überall

MythenEnsembleOrchestral, Lisa Larsson (Sopran), Ltg. Graziella Contratto

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Schweizer Fonogramm
erschienen in: das Orchester 03/2020 , Seite 68

Zu Gustav Mahlers Sinfonien ist alles gesagt? Niemals, soviel ist klar. Aber doch ziemlich viel – so viel, dass es für Neueinspielungen gute Gründe geben muss. Leider fehlen diese bei vielen aktuellen Aufnahmen, nicht jedoch bei der vorliegenden CD mit einer Kammerfassung der ersten Sinfonie. Dass die Produktion in der Schweiz entstanden ist, merkt man am neckischen Übertitel Titänli, dem schweizerdeutschen Diminutiv des Titels der Sinfonie („Der Titan“). Das MythenEnsembleOrchestral bringt unter Leitung von Graziella Contratto eine Version von Klaus Simon zur Uraufführung, der bereits die vierte Sinfonie für Kammerensemble bearbeitet hat.
Die Herausforderungen einer Reduktion sind bei Mahler, der in seinen gigantischen Werken jedes Detail vorgegeben hat, immens – umso mehr bei der Ersten, die anders als die Vierte nicht kammermusikalisch angelegt ist. Im klug formulierten Text des Programmheftes ist zu lesen: „Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Natur und Kunst, wenn gerade mal 16 SolistInnen die sinfonisch besetzte Partitur untereinander teilen?“
Es galt, gerade die atmosphärischen, naturhaften Passagen des Werks angemessen darzustellen und vielleicht sogar in ihrer Wahrnehmung zu schärfen. Das ist unter anderem durch die kluge Instrumentation Simons mustergültig gelungen: Die meisten Instrumente sind nur einfach besetzt, außer den Hörnern und Klarinetten, die im Original ganz oft im solistischen Doppelklang auftreten und auch hier nicht auseinandergerissen wurden. Und natürlich gibt es auch zwei Geigen. Neu kommt jedoch ein Klavier hinzu – und ein Akkordeon. Diese beiden geben dem Werk eine ganz eigene, dezente und doch deutlich wahrnehmbare Farbe von hoher Dichte, einen Grund, auf dem sich die solistischen Instrumente ganz neu entfalten können: naturgemäß viel persönlicher, klarer, schärfer, in der Tat authentischer als im Original. Mutig treten Klavier und Akkordeon an die Stelle von Pauke und Harfe. Mahlers „Welt“-Musik gewinnt, im Hochkünstlerischen wie im Banalen, auf allen Ebenen größte Klarheit. Und: Das Verhältnis des Einzelnen, des Menschen zur Natur wird ganz neu definiert.
Das begeisternde Ergebnis ist nicht zuletzt der hervorragenden Qualität des Ensembles zu danken: Das Schweizer MythenEnsembleOrchestral setzt sich aus Solisten, Kammer- und Orchestermusikern zusammen und widmet sich seit 2007 regelmäßig der Aufführung von sinfonischen Werken des Fin de Siècle in Kammerfassungen. Das Ensemble führt damit die vom Wiener Schönberg-Kreis vor rund hundert Jahren im Verein für musikalische Privataufführungen aufgenommene Tätigkeit weiter.
Nicht reduziert, sondern erweitert wurde die Instrumentation von Zemlinskys Maiblumen blühten überall, im Original für Gesang und Streichsextett, arrangiert hier von Graziella Contratto und leuchtend-dramatisch gesungen von Lisa Larsson: Das ist Musik an der Zeitengrenze, noch spätromantisch, schon expressionistisch.

Johannes Killyen