Wolfram Schurig

Tintoretto: Zweite Übung

für Posaune und Schlagzeug, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Edition Gravis
erschienen in: das Orchester 05/2020 , Seite 70

Es gibt Musik, die entzieht sich einer präzisen Beschreibung. Schon der Titel gibt keinen Hinweis darauf, worum es sich handelt. Das Nachdenken darüber öffnet eine Anzahl von Möglichkeiten.
Das Greifbare sei zuerst genannt. Die Besetzung erfordert drei Schlagzeuger, die sich sinnvollerweise ihre sechs Instrumente aufteilen. Gefordert sind Mokusho und Tempelblock, dann Crotales, Marimbafon, Vibrafon und Gongs. Dazu kommt eine Posaune, die fast ausschließlich mit Wa-Wa-Dämpfer gespielt wird. Schurig gibt am Beginn Anweisungen bezüglich der Art, wie er das Stück gespielt haben will. Beim Betrachten der Partitur ist man geneigt, die Percussionsstimmen als sehr beweglich, den Posaunenpart als den ruhenden Pol zu bezeichnen, obwohl es dort auch einige schnelle, bewegliche Abschnitte gibt.
Das führt zu der Frage, was es mit dem Titel Tintoretto: Zweite Übung auf sich hat. Der Maler Tintoretto lebte gegen Ende der Renaissance, liebäugelte wohl, wie andere in Italien auch, mit den Ideen Martin Luthers, die einige Jahre zuvor die theologische Diskussion in Europa beherrschten. Die Welt war nicht mehr so eindeutig wie zuvor.
Und so liest sich die Partitur auch. Beispielsweise sind die wechselnden Taktarten (5/1, 3/8, 11/2, 5/8, 19/4 usw.) zwar eindeutig, können aber in ihrem Zeitablauf klanglich von lebendigen Menschen nicht mathematisch genau dargestellt werden. Es ist die komponierte Auflösung des Eindeutigen. Gleichwohl erfordert die Musik höchste Konzentration, große Präzision im Zusammenspiel und vor allem in der Posaunenstimme einen großen Umfang.
Kann die Musik, ihr Inhalt, mehr bedeuten als das ernsthafte, wortgetreue Wiedergeben des Geschriebenen? Hier stellt sich die alte, grundsätzliche Frage nach der Bedeutung des Geschriebenen in der Musik: Was stellt es dar? Die Idee der Musik oder lediglich eine Handlungsanweisung?
Die Partitur, die von allen Spielern zu lesen ist, hilft auf jeden Fall bei den sehr langen Takten (19/4) mit darübergelegten rhythmisch orientierenden Hilfsnoten. Denn dadurch können alle Spieler den Verlauf der Musik mitvollziehen, auch wenn sie gerade nicht aktiv beteiligt sind. Das ist auch gut so, denn nur so kann die Wirkung eines geschlossenen Ensembles hervorgerufen werden. Die Tempowechsel, in Verbindung mit ungewöhnlichen Taktarten, lassen sich so bewerkstelligen; und sie unterstützen damit eine bedeutende musikalische Qualität, das hochsensible Kammermusikspiel.
Vielleicht erschließt sich damit auch der zweite Bestandteil des Titels, Zweite Übung. Es ist sowohl eine Übung im Zusammenspiel als auch im Nachdenken über Musik und insoweit wegweisend für alle, die das gemeinsame Erarbeiten einer gewiss nicht einfachen Musik nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Gelegenheit erfüllender kammermusikalischer Erlebnisse verstehen wollen.
Peter Hoefs