Der „Datenhandschuh“ ­liefert wichtige Informationen über die Körperaktivitäten der Konzertbesucher/© Phil-Dera

Frauke Adrians

Tief durchatmen bei ­Beethoven

„Experimental Concert Research“: Ein internationales Team forscht nach dem Konzert der Zukunft

Rubrik: Thema
erschienen in: das Orchester 7-8/2022 , Seite 28

„It’s the singer not the song“, sang Mick Jagger 1965 im gleichnamigen Rolling-Stones-Lied. Ist das wirklich so? Sind es eher die Musiker – ihr Können, ihre Persönlichkeit, ihre ganz eigene Interpretation –, die uns bei einem Konzert faszinieren, als die Musik selbst? Welche Rolle für den Konzertgenuss spielen der Saal, die Beleuchtung, das Publikum,
die Dramaturgie des Abends? Und unsere seelische und körperliche Verfassung? Das ­großangelegte Projekt „Experimental Concert Research“ soll helfen zu ergründen, was ­Menschen im Konzert erleben, was sie „bewegt, begeistert und berührt“ – oder eben nicht.

Der Cellist Alban Gerhardt hat ein Kindheitstrauma. Mit etwa zehn, elf Jahren erlebte er in Salzburg das schlimmste Konzert seines Lebens. Jemand spielte sämtliche Cello-Solosuiten von Bach, „und ich war sooo gelangweilt und durfte ja nicht mal ein Buch dabei lesen“, erinnert sich Gerhardt mit Schaudern. Er war ein begeisterter Konzertbesucher, seit er etwa vier Jahre alt war, doch den Salzburger Solo-Auftritt des ungenannten Saitenquälers hat er als das blanke Grauen im Gedächtnis bewahrt.
Jahre später – Alban Gerhardt erzählt es ohne Eitelkeit, aber mit authentisch wirkendem Staunen – sei es ihm gelungen, ein etwa zur Hälfte aus völlig klassikunerfahrenen Menschen bestehendes Publikum im Berliner Radialsystem mit denselben Solosuiten zu faszinieren und zu begeistern. „Ich habe das Ganze als Bach-Marathon angekündigt. Marathon, das fanden die Leute toll.“ Der Begriff weckte offenbar den sportlichen Ehrgeiz der Besucher. Dabei brauchten sie bei dem gut zweistündigen Programm keinerlei Entbehrungen zu erleiden, durften sogar herumlaufen, Wein trinken und dem Cellisten wahlweise direkt oder via Leinwandübertragung zusehen. „Das war ein großartiges Erlebnis, es gab ein super Feedback vom Publikum“, erzählte Gerhardt bei der Pressekonferenz zur „Experimental Concert Research“ (ECR).
Wegen dieser so gegensätzlichen Konzerterfahrungen ist er überzeugt: „Das Konzert mit dem Surround-System wird der größte Erfolg.“ Das Konzert, von dem er spricht, war eines von insgesamt elf, die im Laufe des experimentellen Konzertforschungsprojekts im Radialsystem und im Pierre-Boulez-Saal zu erleben waren. Als Gerhardt seine Prognose wagte, lagen die Konzerte noch in der Zukunft. Mittlerweile haben sie alle stattgefunden – das letzte ging Anfang Mai über die Bühne des Radialsystems –, doch welches tatsächlich am besten beim Publikum angekommen ist, kann noch nicht letztgültig bestimmt werden.

Sandwich mit moderner Füllung

Denn die vollständige Auswertung der Konzert- und Publikumsforschungsdaten wird, so kündigte es Gesamtprojektleiter Martin Tröndle an, Jahre dauern. Das mag erstaunen, ist aber angesichts des Forschungsaufwands nachvollziehbar. Zudem läuft das ganze Projekt bereits seit sechs Jahren; Martin Tröndle leitet es seit 2018. Corona hat die praktische Umsetzung des jahrelang Vorbereiteten noch einmal verzögert. Nun wurden je Konzert hundert Zuhörer intensiv befragt, verkabelt und vermessen. Die Forscherinnen und Forscher interessieren sich nicht nur für Alter und Geschlecht ihrer Probanden, sondern auch für deren Vorlieben und Vorwissen in Sachen Musik; und nicht nur für ihre Konzertbesuchs-, sondern auch ihre Herz- und Atemfrequenz…


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Ausgabe 7–8/2022.