Josef Bor
Theresienstädter Requiem
Novelle
Was mag in Kopf und Herz eines Shoah-Überlebenden vorgehen, der Lager, Zäune, Transporte und einen lachenden Adolf Eichmann beschreiben muss? Diese Frage pocht bei der Lektüre von Josef Bors Novelle Theresienstädter Requiem beharrlich im Hinterkopf. Denn das tat der ungarisch-jüdische Jurist und Autor, selbst 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert. Dort hatte sein Freund, der Dirigent Rafael Schächter, den unwahrscheinlichen und doch wahren Plan gefasst, Verdis Requiem aufzuführen – mit seinen jüdischen Mitgefangenen, vor der SS und ihren Schergen. Es gelang – und ließ sogar Adolf Eichmann aus Berlin anreisen und in schrilles Gelächter ausbrechen: „Die Juden singen in Theresienstadt das Requiem?“
Das ist, trivial gesagt, der Plot dieses schmalen Buches von Josef Bor, der als einziger seiner Familie den Judenmord überlebte. Doch es ist so viel mehr. Denn die katholische Totenmesse wird zum Zeichen des Widerstands und der Hoffnung gleichermaßen in diesem Jahr 1944. Der Krieg neigt sich dem Ende, die Russen kommen näher. Das und Verdis Musik treiben den Dirigenten, hier Ráfik genannt, an. Wenn er es als seinen Vorteil sieht, dass die Deutschen so viele jüdische Künstler ins Ghetto gesperrt haben, ist das nicht der erste Gänsehautmoment. Dass der alte Mann, der leise um Suppe bettelt, hochmusikalisch ist, wie sich zeigt, ist so anrührend wie die Melodie, die später seine Frage vom Cello erklingen lässt. Das muss, wie auch die Noten und alles andere, ins Lager geschmuggelt werden. Damit ist Bor beim normalen, grausigen KZ-Alltag: Schläge, Hunger und immer die Angst vor dem nächsten Transport. Für den nicht uneitlen Ráfik heißt das: Transporte raus aus dem Lager nahmen, Transporte rein brachten ihm Sänger für den Chor.
Solche Szenen und Gedanken wirken in der neuen Übersetzung von Antonín Brousek härter und unbarmherziger als in der bisherigen Übertragung, die Dispute über die Musik essenzieller. Denn es wird nicht nur eifrig geprobt, sondern auch eindringlich diskutiert: immer wieder die – nicht von allen bejahte – Frage, ob dieses katholische Werk für Juden die richtigen Klänge sind. Aber das Offertorium scheint ihnen die Lagertore zu öffnen, das Requiem die Chance zu sein, der SS ein „Wir haben es dir gezeigt, Hosianna“ entgegenzuschleudern.
Aber es geht auch darum: Wie spricht, singt man mit slawischem Zungenschlag lateinische Worte? Das mag aus heutiger Sicht lapidar erscheinen, doch für die von Gewalt und Tod Bedrohten sind die Proben „die bessere Zeit“. Dann endlich können Ráfik und seine Sänger beweisen, welche Kraft die Musik ihnen gibt und was sie freisetzen kann – dem höhnischen Eichmann zum Trotz. Doch den vom Pauker in das Requiem-Finale geschmuggelten drei Schlägen aus der Schicksalssinfonie folgt das erwartbar-bittere Ende. Die SS hatte den jüdischen Künstlern versprochen, sie nicht zu trennen – denjenigen, die in die ersten Waggons des Transports stiegen.
Das ist, 76 Jahre nach der Befreiung der KZs, immer noch sehr bewegend und nicht nur als Lektüre verpflichtend.
Ute Grundmann