Alois Bröder

The Wives of the Dead

Marisca Mulder, Mireille Lebel, Marwan Shaniyeh, Florian Götz, Opernchor des Theaters Erfurt, Philharmonisches Orchester Erfurt, Ltg. Johannes Pell

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Dreyer Gaido
erschienen in: das Orchester 11/2018 , Seite 75

Zwei Lesarten, zwei Sprachen, zwei Chöre, zwei Frauen, zwei Män­ner, zwei Boten, zwei Wahrheiten: Mehr Dualismus und Symmetrie kann man von einem Bühnenstück wohl kaum erwarten. Inhaltlich provoziert es schon der literarische Ideengeber Nathaniel Hawthorne, der mit The Wives of the Dead den Komponisten Alois Bröder zu einem doppelbödigen Gesamtkunstwerk inspiriert hat.
Das Libretto hat der 1961 geborene Komponist, dessen Schaffen bisher über 100 Werke umfasst, der mit The Wives of the Dead als Auftragswerk des Theaters Erfurt aber seine erste Oper vorgelegt hat, selbst eingerichtet. Er liefert zwei Versionen eines zwischen Wirklichkeit und Traum angesiedelten Stoffes, der es nicht als seine Hauptaufgabe betrachtet, eine eindeutige Wahrheit zu offenbaren. Der Unterschied liegt im Detail: Eine andere Aneinanderreihung fast gleicher Szenen, ein Personentausch sind vielleicht die offensichtlichsten Unterschiede. Auch wenn die Musik die beiden Abläufe sowohl im Vokalen als auch im orchestral Illustrierenden stilistisch und atmosphärisch verbindet, kommt es zu Umdeutungen.
Worum geht es? Mary und Margaret haben nach nur kurzer Ehezeit ihre Ehemänner, zwei Brüder, verloren. Die Witwen erhalten jedoch von zwei Boten in einer nächtlichen Szene nacheinander die Meldung, dass der jeweilige Ehemann doch überlebt hat. Beide verspüren zunächst den Impuls, die gute Nachricht der anderen sofort mitzuteilen. Doch ihre Rücksichtnahme auf die Trauer der Schwägerin hält sie davon ab.
Der Text gibt allen Anlass zum Grübeln. Einzelne Formulierungen sind so offen gehalten, dass sie zwei Interpretationen der erzählten Geschichte zulassen: Hat sich alles so real ereignet oder war alles nur geträumt? Die Wahr­heit – sofern vorhanden – wird durch die Verschränkung mit Traumbildern und mensch­licher Seelenschau zu einem undurchsichtigen Geflecht vernebelt.
Die Aufnahme, die im Booklet durch die komplette Textabbildung des Librettos mit Übersetzung der englischsprachigen Teile, Fotos der Bühnenaufführung in Erfurt (UA 2013) und einem aufschlussreichen Aufsatz von Dramaturg Berthold Warnecke ergänzt wird, macht das Erleben der Theaterproduktion als Ohrenstück durchaus plastisch.
Dazu trägt an erster Stelle die Qualität der Produktion bei, die nicht nur in musikalischer Hinsicht durch die Solisten und das fein getimte Philharmonische Orchester des Theaters Erfurt unter der Leitung von Johannes Pell überzeugt. Der Chor, der zunächst flüstert und später im schönsten Chorsatz fortfahren darf, die Sänger, die so weit vor dem Orchester positioniert sind, dass ihre Selbstgespräche, ihre Dialoge oder Einsichten sich fast greifbar vermitteln, oder das Orchester, das sich dramatisch verdichtend oder Raum gebend agiert, oftmals Orff’sche Kraft heraufbeschwört, strawinskyartig motorischen Grund liefert oder spätromantisch anmutend Ruhepunkte setzt: Das alles ist für den CD-Hörer bildhaft für Ohr und inneres Auge erlebbar.
Sabine Kreter