Pierre Wissmer
The Violin Concertos
Oleg Kaskiv (Violine), Sinfonia Varsovia, Ltg. Aleksandar Marković
Als Hochschulprofessor und Radio-Programmdirektor hat Pierre Wissmer (1915–1992) vor allem in Genf, Paris und Luxemburg gearbeitet. Nebenher aber war er ein mehrfach preisgekrönter Komponist mit einem umfangreichen Werk, darunter auch drei ambitionierte, jeweils dreisätzige Violinkonzerte. Entstanden sind diese Konzerte in den Jahren 1942, 1954 und 1987 – und sie beleuchten eine erstaunliche kompositorische Entwicklung: Das erste Violinkonzert erlebte seine Premiere 1944 in Genf, noch während des Krieges. Die Uraufführung fand allerdings als Rundfunk-Übertragung statt – das mag erklären, warum die drei Sätze eher leicht, klangfarbenverliebt und vergnügt gehalten sind und deshalb auch einem breiteren (Radio-)Publikum zugänglich sein dürften. Die Tonsprache ist weitgehend diatonisch oder modal, aber die Abläufe sind voller erfrischender Einfälle. Zuweilen tönt es festlich, fast barock, durchsetzt mit volkstümlichen Elementen. Der zweite Satz basiert auf einer Fuge, der dritte erinnert an einen Tanz.
Recht anders klingt Wissmers zweites Violinkonzert aus der Nachkriegszeit – nämlich chromatisch, dissonant, zeitweise sogar atonal. Es gibt zwölftönige Ansätze, schroffe Akzente (Allegro risoluto), fragmentarische Gedanken, eine polytonale Vieldeutigkeit. Der zweite Satz fließt mysteriös dahin, emotional intensiv und in nuancierter freier Tonalität. Der dritte Satz enthält Anklänge an Strawinsky’sche Rhythmen, viel Perkussion und ein triumphierendes Ende. Trotz aller Unterschiede zum ersten Konzert gefällt auch das zweite mit raffinierten Klangfarben und einem kurzweiligen, sehr bewegten Ablauf.
Sein drittes Violinkonzert schrieb Wissmer im Alter von über 70 Jahren, als er seine beruflichen Verpflichtungen schon hinter sich gelassen hatte. Obwohl dieses Konzert das kürzeste der drei ist, habe es ihn „viel Mühe“ gekostet, sagte der Komponist. Man glaubt es gerne, denn sein Spätstil ist hochkomplex – ein atonales, eng verzahntes, kunstvoll gewobenes, dicht wogendes Stimmengeflecht. Zeitweise scheint die Solovioline hier wie durch ein Labyrinth zu mäandern. Die Uraufführung fand 1992 statt, wenige Monate vor Wissmers Tod, und zwar in Olsztyn in Nordpolen.
Letzteres mag der Grund sein, warum sich ein polnisches Orchester – die renommierte Sinfonia Varsovia – dieser drei hochinteressanten Violinkonzerte angenommen hat. Der Solist, Oleg Kaskiv, kommt aus der Ukraine und ist ein international ausgezeichneter Virtuose. An der Yehudi-Menuhin-Akademie in der Schweiz wirkt er als Professor. Mit meist schlankem, hellem Ton manövriert er elegant durch Wissmers Konzertsätze. Seine Violine wurde ihm von einem Schweizer Sponsor zur Verfügung gestellt. Es ist eine wunderbare Guarneri del Gesù mit unklarer Geschichte.
Hans-Jürgen Schaal