Werke von Wagner, Haydn, Berlioz und Britten

The Unreleased Masters

Jessye Norman (Gesang), Thomas Moser (Gesang), Ian Bostridge (Gesang), Gewandhausorchester Leipzig, Ltg. Kurt Masur, Berliner Philharmoniker, Ltg. James Levine, Boston Symphony Orchestra, Ltg. Seiji Ozawa

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: DECCA
erschienen in: das Orchester 02/2024 , Seite 68

Der 30. September 2019 war kein schöner Tag für die Opernwelt. An ihm starb die berühmte Opernsängerin Jessye Norman. Als sie von uns ging, hinterließ sie eine umfangreiche Diskografie. Nicht alle Aufnahmen, die sie machte, wurden allerdings zu ihren Lebzeiten veröffentlicht. Einige hielt die ausgesprochen selbstkritische Sopranistin zurück. Ein paar dieser Einspielungen sind jetzt von den Erben der Sängerin freigegeben und von dem Label DECCA veröffentlicht worden.
Auf den hier versammelten drei CDs beeindruckt zuerst einmal die absolute Hingabe, mit welcher Jessye Norman singt, egal, welches Fach sie gerade bedient. Sie verfügte in ihren besten Zeiten über einen wunderbar italienisch geschulten, üppigen, kraftvollen und dunkel timbrierten Sopran. In dieser CD-Box interessieren in erster Linie die im Jahre 1998 aufgenommenen Ausschnitte aus Wagners Tristan und Isolde unter der musikalischen Leitung von Kurt Masur. Man kann schon nachvollziehen, dass die große Künstlerin diese Aufnahme nicht freigegeben hat. Sie singt manchmal mit kleinen Unebenheiten und wartet in der Höhe zeitweilig mit winzigen Schärfen auf. Hochdramatische Attacke steht ihr nur bedingt zur Verfügung. Zudem gibt es einige winzige Intonationstrübungen. Im verstärkten Maße auf die Intonation achten sollte Hanna Schwarz in der Rolle der Brangäne. Thomas Moser ist ein gut im Körper und elegant singender Tristan. Ian Bostridge macht mit sauber geführtem Tenor viel aus der kleinen Rolle des jungen Seemannes. Dirigent Kurt Masur wartet mit einem leichten, kammermusikalischen Klang auf, ist aber noch nicht bis in die tiefsten Tiefen der Tristan-Partitur vorgedrungen.
Mit Masur hatte Jessye Norman 1982 bereits die Vier letzten Lieder von Richard Strauss eingespielt. Hier nun findet man einen 1989 entstandenen Live-Mitschnitt aus Berlin unter James Levine, der der Sängerin einen opulenten Klangteppich bereitet. Im Ausloten dieser Lieder ist Jessye Norman ganz groß. Leider klingt ihre Stimme nicht mehr so warm und üppig wie früher. Das wird es sein, was die Sängerin bei dieser Aufnahme gestört hat. Famos gelingen ihr indes Wagners 1992 ebenfalls live aufgezeichneten Wesendonck-Lieder, bei denen ihr James Levine wieder ein umsichtiger Begleiter ist.
Das gilt in gleicher Weise für die drei von ihr auf der dritten CD präsentierten Königinnen. Joseph Haydns Scena di Berenice, Hector Berlioz’ Cléopatre und Benjamin Brittens Phaedra werden von ihr äußerst intensiv, dramatisch und mit starker Inbrunst dargeboten. Einige wenige nicht so optimal gelungene hohe Töne mögen der Grund sein, dass sie auch hier mit einer Veröffentlichung nicht einverstanden war.
Ludwig Steinbach