Carl Nielsen
The Symphonies
The Royal Danish Orchestra. Recordings 1965-2022 Thomas Søndergård, Alexander Vedernikov, Leonard Bernstein, Simon Rattle, Michael Boder, Paavo Berglund, Michael Schønwandt
Der Name ist nicht unbedingt Programm: Zwar wurde das Royal Danish Orchestra (RDO) zur höfischen Repräsentanz in Kopenhagen 1448 gegründet. Jetzt ist das Repertoire jedoch zeitgemäß angepasst. Zum 575. Geburtstag gratuliert sich das RDO demnach auch nicht aristokratisch-affirmativ, sondern mit einer Kollektion der Symphonien von Carl Nielsen (1865-1931), dessen progressiver Stil wie ein extravaganter Keil in die europäische Kunstmusik des 20. Jahrhunderts ragt. Wesentlich für die Entscheidung, dieses in Dänemark herausragende Œvre als eine exklusive Dokumentation zur historischen Würdigung des RDO zu wählen, ist, dass Carl Nielsen, bevor er als Komponist und Dirigent reüssierte, Violinist in eben diesem Orchester war.
Bis auf zwei sind die Aufnahmen aus der letzten Dekade des 21. Jahrhunderts, sodass der Untertitel „Recordings 1965-2022“ etwas irreführend ist. Die älteste ist die Aufnahme mit Leonard Bernstein. Seine Interpretation der Symphonie Nr. 3 „Espansiva“ bezeichnete er als „Swirl“ (Wirbel), wobei herbe Streichersequenzen kontra lyrische Holzbläsermotive sowie filigranes Pastorale gegen vitales Allegretto gehalten werden und das Maestoso-Finale neobarock auftrumpft.
Die Bezeichnung Sinfonia semplice (Nr. 6) ist wohl ironisch gemeint, denn deren avantgardistischen Sounds in komplexer Polyfonie streben mit dem Dirigat (1989) von Paavo Berglund aus Finnland zu apokalyptischen Dimensionen. Stringent und manchmal in krassen Kontrasten, auch mit Verve in rhythmischen Rückungen hat Thomas Søndergård die Symphonie Nr. 1 (2022) konturiert. Die „Vier Temperamente“ der Symphonie Nr. 2 werden mit Alexander Vedernikov, RDO-Chefdirigent (2018-2020) aus Russland, zu Akteuren in einer Operndramatugie.
Nach einem Adrenalin-Start beruhigt Simon Rattle die Fuego-Energie der „Inexstinguishable“ (unauslöschlichen) Symphonie Nr. 4 in einer Pastorale, deren pittoreskes Kammer-Intermezzo nur ein Durchgang zu dissonanter Streicher-Elegie und vulkanischem Furioso-Finale ist. Die weichen Streichersequenzen und subtilen Holzbläser-/Horn-Motive, typisch für den RDO-Sound, koordiniert Michael Boder aus Deutschland so, dass die Symphonie Nr. 5 in poetischer Physiognomie überzeugt (2015).
Extra-Plus ist das Klarinettenkonzert, bei dem John Kruse, Klarinetten-Prinzipal im RDO, den Solo-Part als Kobold-Rolle versteht, sodass er oft provokant und in rhapsodischer Kadenz extrem virtuos mögliche Harlekin-Eigenschaften von Carl Nielsen pointiert. Eine begründete Vermutung, wie die Overtüre zur Maskerade mit Michael Schønwandt als Klangparty der Kapriolen zeigt. Carl Nielsen hat seinen singulären Stil nachhaltig ins RDO graviert, sodass diese opulente Jubiläumsedition sowohl das Orchester als auch den Komponisten feiert.
Hans-Dieter Grünefeld