Mikalojus Konstantinas Čiurlionis

The Sea/In the Forest/ Kestutis Overture

Lithuanian National Symphony Orchestra, Ltg. Modestas Pitrénas

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ondine
erschienen in: das Orchester 11/2020 , Seite 68

Eigentlich hätte er zwei Leben haben müssen, der litauische Künstler Mikalojus Konstantinas Čiurlionis – eines als Komponist und eines als Maler. Oder wenigstens ein Leben, das länger als 36 Jahre währte. Dann wäre nicht nur alles das zu Tönen und Bildern geworden, was ihm die Fantasie überreich eingab und womit ihn die Welt entnervend bedrängte – er hätte auch den immensen Erfolg seiner „musikalischen Bilder“ erleben können.
Geboren am 10. September 1875, wuchs Čiurlionis in Druskininkaí auf – einem Badeort am Fluss Njemen, wo ihn die reizvolle Landschaft und ein vielfältiges Kulturleben prägten und wo er erste musikalische Anregungen fand. Später waren Warschau, Leipzig, Vilnius und Sankt Petersburg seine Ausbildungsorte und Wirkungsstätten. Etwa 300 Werke hat er komponiert und ebenso viele gemalt und in beiden Künsten eine erstaunliche Kreativität an den Tag gelegt. Und trotz eines oft von Einsamkeit, Armut und Depressionen gesäumten Weges als „freier Künstler“ vermochte er Beachtung für sich und sein Land zu erzielen: Er schrieb die erste Klaviersonate, das erste Streichquartett, die erste sinfonische Dichtung der litauischen Musik und trug auch als Maler zur Erneuerung der Nationalkultur und zur Entwicklung der Moderne bei. Anerkennung aber fand Čiurlionis ebenso wenig wie eine sichere Existenz – weder in Litauen noch in Polen oder Russland. Erst nach seinem Tod rissen sich die Galerien in den europäischen Metropolen um die Bilder, auch der Run auf seine Musik setzte ein. Und 1930 würdigte Romain Rolland den Vorläufer Schönbergs und Kandinskys: „Das ist ein neuer geistiger Kontinent, dessen Christoph Columbus ohne Zweifel Čiurlionis bleiben wird.“
Das sinfonische Poem Im Walde entstand 1901, wird in Warschau prämiert, doch erst 1912 uraufgeführt; die Tondichtung Das Meer, 1903 bis 1907 geschaffen, muss fast zwanzig Jahre auf ihr Erklingen warten. Beide Werke offenbaren Čiurlionis’ Liebe zur Natur und zu brillanten Orchesterfarben. Sensibel nutzt er die Folklore für seine liedhaften Themen und fantasievollen Formen, „malt“ idyllische Waldszenen und gewaltige Meeresbilder und wählt Tonsymbole – am Anfang und am Schluss von Im Walde, wo Klänge wie Baumstämme aufragen und kleine Motive wie Sonnenlicht eindringen, oder die wogenden Ostinati und polyfonen Melodien, die Trillerketten und Klangkaskaden in Das Meer. Beide Werke besitzen Bildbezüge: Musik des Waldes (1904) und Meeressonate (1908). Und beide Werke sind – wie viele dieser Zeit – von der Sehnsucht nach Geborgenheit in der Natur und nach Aufbruch in ferne Weiten durchdrungen.
Mit diesen Neueinspielungen, darunter auch die festliche Ouvertüre Kestutis (1902), haben Dirigent und Orchester ihren Landsmann wieder in den Fokus gerückt – und dank ihrer Hingabe und ihres feinen Gespürs für Farben und Finessen erstehen die Klangwunder dieses außergewöhnlichen Künstlers in ihrer ganzen Schönheit und Eigenart.
Eberhard Kneipel