Strawinsky, Igor

The Rite of Spring / The Firebird (Suite 1919)

hr-Sinfonieorchester, Ltg. Andrés Orozco-Estrada

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Pentatone PTC 5186 556
erschienen in: das Orchester 09/2016 , Seite 70

Der in Kolumbien geborene Andrés Orozco-Estrada hat bereits mit einer Reihe von CDs mit dem Tonkünstler-Orchester Niederös­ter­reich auf sich aufmerksam gemacht. In der vorliegenden Einspielung steht er am Pult des hr-Sinfonieorchesters, dem er seit Beginn der Saison 2014/15 als Chefdirigent vorsteht.
Das Repertoire ist keineswegs ungewöhnlich. Sowohl von Strawinskys Sacre als auch von seiner Feuervogel-Suite (der zweiten von 1919) liegen zahlreiche, um nicht zu sagen unzählige Aufnahmen vor. Gelingt es den Interpreten, mit ihrer Neuveröffentlichung trotzdem zu punkten? Über weite Strecken ja, und es bedeutet keine Herabsetzung der Musiker, wenn man zuerst auf die hervorragende technische Klangqualität aufmerksam wird. Der Orchesterklang ist mit einer imponierenden Transparenz, Dynamik und Wärme abgebildet; zahlreiche Details, die sonst oft untergehen, kommen hier zu ihrem Recht.
Orozco-Estrada besitzt ein untrügliches Gespür sowohl für die klangfarblichen Schattierungen der Musik als auch für ihre motivische Struktur. Der frühlingshaft-kreatürliche Beginn des Sacre besitzt geradezu kammermusikalischen Feinsinn, und in den zahlreichen auftrumpfend-wilden Passagen des Werks rangiert die Durchhörbarkeit des orchestralen Geflechts vor klanglicher Überwältigung. Auch das – bei Ballettmusik natürlich unerlässliche – tänzerische Element der Werke ist hervorragend getroffen: Viele Passagen des Sacre, etwa die „Danses des adolescentes“, swingen geradezu.
Damit wären wir aber auch beim einzigen Punkt von Orozco-Estradas Interpretationsweise angekommen, der, je nach Geschmack, ein wenig problematisch anmuten könnte. Sicherlich verzichten die meisten Dirigenten heutzutage darauf, die Schockwirkung nachzuvollziehen, die der Sacre zu seiner Entstehungszeit ausgelöst hat. Orozco-Estradas Dirigat wirkt jedoch derart entspannt und geradezu freundlich, dass man doch etwas zu wenig von jenen dunklen, mythisch-atavistischen Regionen spürt, die das Werk, wenn auch nicht vollständig, beherrschen. Hier ist kein grausames urzeitliches Ritual zu hören, sondern eher ein ballettistisch geprägtes Konzert für Orchester. Zieht man etwa Leonard Bernsteins Aufnahme mit den New Yorker Philharmonikern zum Vergleich heran, spürt man den Unterschied – ganz gleich, welcher Sichtweise man persönlich den Vorzug gibt.
Dieser kleine Einwand ändert jedoch nichts an der vorzüglichen Orchesterleistung, die in beiden Werken evident ist. Das hr-Sinfonieorchester hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Klangkörper erster Güte entwickelt. Und schlussendlich sei gesagt, dass in der Feuervogel-Suite keine Wünsche offen bleiben: Klangsinnlicher, elegan­ter und gleichzeitig temperamentvoller (man höre nur die „Danse infernale“!) bekommt man das Stück selten zu hören.
Thomas Schulz