Bach, Johann Sebastian

The RIAS Bach Cantatas Project

Berlin, 1949-1952, 9 CDs

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Audite 21.415
erschienen in: das Orchester 09/2012 , Seite 79

Diese umfangreiche CD-Box ist imponierend in editorischer und musikalischer Hinsicht. Nur: Wer soll dieses Kantaten-Konvolut kaufen? Es enthält 28 Kantaten von Johann Sebastian Bach und eine Bach zugeschriebene Kantate von Telemann, aufgenommen zwischen 1949 und 1952 unter Leitung von Karl Ristenpart mit RIAS-Ensembles und aufstrebenden oder etablierten Solisten. Ristenpart, der nach seiner RIAS-Zeit beim Saarländischen Rundfunk ein Kammerorchester leitete, pflegte einen durchaus progressiven Interpretationsstil der klaren Diktion und des schlanken Klangs bei kleiner Besetzung. Damit setzte er einen Kontrapunkt zu philharmonisch aufwändigeren Produktionen. Musiziert wird auf hohem Niveau; genannt werden im Booklet nur die Sänger, nicht die Instrumentalsolisten. Aufgenommen wurde noch monaural, Aufnahmeort war fast ausnahmslos die bekannte, akustisch hervorragende Christuskirche in Berlin-Dahlem.
Es handelt sich also um ein exemplarisches musikhistorisches Dokument der Bach-Pflege um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Doch heute sind wir weiter: Wir haben Karl Richters oder auch Herbert von Karajans Deutungen erlebt; vor allem aber hat uns die historisch informierte Aufführungspraxis geprägt, von ihren streitbaren Anfängen bis zur heutigen Alltagspraxis. Unser Bach-Bild ist zwar vieldimensional, aber konträr zu diesen RIAS-Aufnahmen, die deshalb für heutige Ohren fremd und museal klingen. Choräle ertönen in gehämmertem Marcato neutral und distanziert; Rezitative kommen gleichförmig daher, gestützt von gehaltenen Continuo-Akkorden; Punktierungen werden gespielt wie notiert, also nicht doppelt geschärft. Vor allem aber vermisst man die uns geläufige flexible Deklamation und Dynamik bei den Singstimmen und den Instrumenten; stattdessen marschiert die Musik monoton voran, dem Brauch der Zeit folgend. Diese Charakterisierung sollte also nicht als Kritik missverstanden werden, sie ist lediglich Beschreibung.
Für die Rezeptionsgeschichte der Bach-Kantaten ist diese Kassette ein einzigartiges Dokument, ebenso für den Sammler historischer Bach-Interpretationen. Unter den Gesangssolisten sind drei Namen bemerkenswert: Agnes Giebel am Beginn ihrer Karriere als Oratoriensängerin; Helmut Krebs als führender Oratorien-Tenor; am häufigsten setzte Ristenpart den jungen Dietrich Fischer-Dieskau ein, auch in der Solo-Kantate Ich will den Kreuzstab gerne tragen; Sammler seiner Diskografie könnten hier Raritäten entdecken!
Dennoch bleibt der Eindruck blass und ernüchternd; selbst die jugendliche Emphase eines Fischer-Dieskau tönt relativ distanziert. Wer abseits von interpretationshistorischem Interesse überzeugende Aufnahmen der Bach-Kantaten sucht, der wird wohl eher im aktuellen Angebot – zwischen Harnoncourt und Koopman, Gardiner und Rilling – fündig.
Arnold Werner-Jensen