Ross, Alex

The Rest is Noise

Das 20. Jahrhundert hören

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Piper, München 2009
erschienen in: das Orchester 01/2010 , Seite 66

Als sie sich 1907 in Helsinki trafen, meinte Mahler Sibelius gegenüber, die Symphonie müsse sein wie die Welt, also alles umfassen. Ein Jahrhundert und (in der nicht immer zuverlässigen deutschen Übersetzung) gut 400 Seiten später stellt Alex Ross fest: „Heute ist Kunstmusik die ganze Welt; sie ist nicht mehr nur eine europäische Kunstform.“ Die Koreanerin Unsuk Chin, die Chinesin Chen Yi und Pauline Oliveros aus den USA verankert Ross auf der musikalischen Weltkarte um die Jahrtausendwende ebenso wie Takemitsu, John Zorn oder, als Vertreter der Neuen Komplexität, die so neu gar nicht ist, Brian Ferneyhough.
Als roter Faden – vom Motto an bis zu John Adams’ Oper “Nixon in China”, die im Schlusskapitel eingehend gewürdigt wird – dient Thomas Manns “Doktor Faustus”. Aus der „Geisterwelt“, der die Musik im Roman angehört, holt sie Ross ins Hier und Jetzt. Dies gelingt ihm (nebenbei bemerkt: vorzüglich), indem er Komponisten, deren Wirken und Werke in die Kultur- und Sozialgeschichte einbettet, auch politische Ereignisse nicht außen vor lässt.
Die „totale Politisierung der Kunst mit totalitären Mitteln“, unter der Schostakowitsch zu leiden hatte, die „Todesfuge“, mit der Hitler das Land überzog und vor der Krenek und Schönberg in die USA flohen, während andere wie Erwin Schulhoff und Viktor Ullmann im Konzentrationslager ihr Leben lassen mussten, die antikommunistische Hetzjagd McCarthys und die Kulturrevolution Maos, die einige Künstler in den Suizid trieb, sie alle werden ausführlich in den Blick genommen.
Sibelius und Benjamin Britten, beides Komponisten, die in unseren Konzertsälen noch eher selten erklingen, gelten eigene Kapitel. So atmosphärisch dicht Ross die ostenglische Küste, wo Britten zuhause war, zu evozieren vermag, so anschaulich und nachvollziehbar kann er über (nicht nur Brittens) Musik schreiben.
Wenn Ross Parallelen aufdeckt zwischen der Fünften von Sibelius und John Coltranes “A Love Supreme”, wenn er über Velvet Underground und Roxy Music nachdenkt, wenn er Public Enemys “Welcome to the Terrordome” als „Sacre des schwarzen Amerika“ feiert, dann zeugt das von der Vielfalt (scheinbar) disparater Richtungen im 20. Jahrhundert, das zu hören uns Ross einlädt, und die aufzuzeigen es eines so wachen wie unkonventionellen Geistes bedarf, wie er dem Musikkritiker des New Yorker, 1968 geboren, eignet. Das intellektuelle und das populäre Repertoire zusammenzuführen ist Ross’ erklärtes Ziel. Er erfüllt es bestens und immer wieder mit überraschenden Querverweisen.
Lesen ist, wenn es um Musik geht, nur die halbe Sache. Darum finden sich im Anhang neben Lektürehinweisen auch empfehlenswerte Aufnahmen. Mehr noch: Im Internet hat der Verlag Hörbeispiele kostenfrei zugänglich gemacht; zudem wird in einem Glossar Fachvokabular erläutert. Dies alles macht den Band zu einer Musikgeschichte, zu der man, mit Lust und Gewinn, immer wieder gern wird greifen wollen. Ihr Autor ist der Musik, das spürt man auf jeder Seite, „von Herzen zugetan“, wie es im “Doktor Faustus” heißt.
Jürgen Gräßer
 

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