The Radio Recordings 1939-1945
Berliner Philharmoniker, Ltg. Wilhelm Furtwängler; 22 CD/SACD & 184-seitiges Begleitbuch
Zu Beginn des Finalsatzes von Brahms’ Sinfonie Nr. 1 wächst der Klang scheinbar aus dem Nichts heraus und steigert sich dann eindrücklich bis zum Forte. Plastisch wie auf einem Relief treten die Pizzicati der Streicher und das von den Flöten fortgeführte Alphornthema des Solohorns hervor. Als Wilhelm Furtwängler am 23. Januar 1945 im Admiralspalast zum letzten Mal vor dem Zusammenbruch des Nazi-Reichs am Pult seiner Berliner Philharmoniker stand, ließ er einen großen Spannungsbogen entstehen, dessen Intensität auch heutige Hörer tief berühren kann. Die Philharmonie in der Bernburger Straße lag zu der Zeit längst in Schutt und Asche. Ständig heulten in der Stadt die Sirenen, wenige Monate später würde der Krieg zu Ende sein. Nur der Schluss dieses denkwürdigen Konzerts ist noch auf den Originaltonbändern des Reichsrundfunks erhalten, die von der Roten Armee später nach Moskau geschafft wurden. Erst nach der Wende Anfang der 1990er Jahre kamen die rund 1500 Bänder nach Deutschland zurück.
Auf der Grundlage dieses aufsehenerregenden Materials haben die Berliner Philharmoniker die erste Gesamtausgabe sämtlicher Rundfunkmitschnitte ihrer Auftritte mit Furtwängler zwischen 1939 und 1945 erstellt. 21 Konzerte, bei denen zumeist Werke des sogenannten deutschen Kernrepertoires auf dem Programm standen, sind in der 22 CD und SACD umfassenden Edition vereint. Neben Sinfonien von Beethoven, Brahms, Bruckner und Schubert sowie des von Furtwängler komponierten Symphonischen Konzerts für Klavier und Orchester sind beispielsweise auch Schumanns Klavierkonzert a-Moll mit Walter Giesing oder das Violinkonzert von Sibelius mit Georg Kulenkampff zu hören.
Anhand der neuen CD-Edition ist gut nachvollziehbar, mit welcher Emphase Furtwängler, einer der letzten Espressivo-Dirigenten in der Tradition Richard Wagners, Werke der Romantik interpretierte. Störgeräusche wurden weitgehend herausgefiltert, die erzielte Klangqualität ist erstaunlich. Die restaurierten, digital bearbeiteten und in 24-Bit-Auflösung remasterten Aufnahmen bieten Einblick in eine Zeit, in der Furtwängler, der in einem ambivalenten Verhältnis zum NS-Regime stand, seinen künstlerischen Zenit erreicht hatte. Auch nachdem er wegen eines Eklats 1934 als Chefdirigent zurückgetreten war, blieb er dem „Reichsorchester“ eng verbunden.
Ein umfangreiches Begleitbuch dokumentiert, unter welchen Umständen die von Hitler angeordneten Radiomitschnitte entstanden. Furtwängler hatte die Aufnahmen zunächst abgelehnt, weil er offenbar bezweifelte, dass die Klangbalance und feinste dynamische Abstufungen unverfälscht wiedergegeben werden könnten. Die Aufzeichnung der ersten Liveübertragung eines seiner Konzerte aus der Philharmonie im Oktober 1938 ist im Gegensatz zu späteren Bändern inzwischen verloren. Ab der Saison 1940/41 wurden alle Aufführungen in der Reihe „Zehn Philharmonische Konzerte“ im Radio gesendet. Dass Furtwängler seine Skepsis überwand, lag wohl nicht zuletzt an Friedrich Schnapp: Mit dem Tonmeister arbeitete der Dirigent nicht nur von 1939 bis Anfang 1945 in Berlin, sondern auch noch nach dem Krieg bei den Salzburger Festspielen zusammen.
Corina Kolbe