Chaya Czernowin
The Quiet
for large orchestra divided into three groups, Studienpartitur
„Am Anfang war der Sturm, der Schneesturm, der vor ihrem Fenster tobte, durch die Glasscheibe zu sehen, doch kaum zu hören. Ein wirbelndes Chaos in der Stille.“ So in etwa beschreibt die israelische Komponistin Chaya Czernowin, die in den USA, Japan, Deutschland und Österreich lebt und lehrt, den Anlass zu ihrem Orchesterwerk The Quiet, das einen Wendepunkt in ihrem Œuvre markiert.
Das 2010 für die Münchner Musica Viva und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks komponierte Orchesterwerk ist der Einstieg in ihre „Crescendo-Trilogy“, die in den darauffolgenden Jahren mit Zohar Iver (2011) und Esh (2012) ihren Abschluss fand. Und der Neuanfang ist schon beim ersten Blick in die Partitur direkt spürbar. Das Orchester ist aufgeteilt in drei Streichergruppen – verstärkt durch unterschiedliche Bläserensembles (Klarinetten/Posaunen, Oboen/Fagotte/Hörner, Trompeten) – halbkreisförmig vor dem reichhaltigen Schlagwerkensemble aufgestellt. Traditionelle Spielweisen werden durch vielfältige Anweisungen zum alternativen Kratzen, Atmen und sonstiger Behandlungen der Klangerzeugung ersetzt.
Es wird um Vierteltöne erhöht, erniedrigt, und Begriffe wie „drunken rhythm“ fallen mehr als einmal. Exakte Tonhöhen werden abgelöst durch Anweisungen „pitch low (high) as possible“ oder das Spektrum wird durch Striche in „high/ middle/low grob“ eingeteilt, in der dann der Spieler seinen Platz selbst wählen darf.
Im Gegensatz zu den ausführlichen Beschreibungen der Freiheiten in Ausführung und Tonhöhe überraschen dann doch die oft wechselnden und ungewöhnlichen Taktangaben: 4/4 + 1/8 gefolgt von 4/4 + XX sind keine Seltenheit. Und hier spürt man den neuen Weg Chaya Czernowins: Neben dem Lauschen auf den Klang der Instrumente, dem Spüren einer tatsächlichen oder imaginären Klangphysik (schließlich ist das alternative Atmen und Pusten in die Blechblasinstrumente, das Kratzen am und hinter dem Steg ja nichts anderes als die gesuchte Manipulation der Obertonreihe), treten nun Rhythmik und Raum stärker in den Fokus. Aus dem leisen, ganz leisen Wirbel der Pauken entwickelt sich das Schneegestöber, doch bleibt es immer verhalten. Erst gegen Ende des elfminütigen Orchesterwerks verdichtet sich der Klang der drei Gruppen und steigert sich im Crescendo, das abrupt abbricht. Bis dahin wandern die Klangflocken durch alle drei Gruppen (immer vor dem Hintergrund des Schlagwerks) und damit durch den Raum. Die Rolle des Raums für den Klang wird jetzt hör- und nachvollziehbar.
The Quiet ist ein Stück für Spezialisten. Der Effekt der Klangentwicklung setzt ein hohes Maß an Präzision und Gespür für die gewollt-unpräzisen Anweisungen voraus. Der exakt vorgegebene Rhythmusrahmen ist Träger des Stücks und stellt Dirigent wie Spieler vor nicht geringe Hürden. Allerdings macht manches auch noch den Eindruck des Suchenden‚ des Auf-dem-Weg-Seins; dem Stück wohnt im wahrsten Sinne des Wortes der Zauber eines neuen Anfangs inne. Diesen herauszuarbeiten, ihn erlebbar werden zu lassen, ist die große Herausforderung in The Quiet.
Markus Roschinski