Haydn, Joseph

The Paris Symphonies

Zürcher Kammerorchester, Ltg. Roger Norrington

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Sony Classical 88875021332
erschienen in: das Orchester 10/2015 , Seite 72

Angesichts dieser sechs Pariser Symphonien fragt man sich, warum sich der etablierte Konzertbetrieb fast nur um eine Handvoll von Haydns 104 Symphonien kümmert. Und häufig lässt man sich dazu immer noch von so albernen oder nichtssagenden posthumen Beinamen wie „Das Huhn“ Nr. 83 oder „La Reine“ Nr. 85 animieren (man sollte sie einfach streichen!). Wie lange wird es noch dauern, bis die musikalische Öffentlichkeit endlich begreift, wie wichtig und bedeutend dieser Komponist ist?
Die Neuaufnahme der Pariser Symphonien unterstreicht die Bedeutung ihres Schöpfers nachdrücklich. Sie erfüllt alle Erwartungen, die vor allem an den Namen Norrington gebunden sind, nicht erst seit seiner Zeit beim Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR mit seinem „Stuttgart Sound“. Dieser Pionier der historisch informierten Aufführungspraxis – seit 2011 Principal Conductor des renommierten Zürcher Kammerorchesters – präsentiert hier eine sorgfältig durchgearbeitete und zugleich vitale Einspielung, die „Lust auf mehr“ weckt – es muss ja nicht gleich eine Gesamtaufnahme aller Symphonien sein. Diese neue Aufnahme demonstriert zugleich, wie sich die historisch orientierte Spielweise allmählich zu größerer Gelassenheit weiterentwickelt hat, also ohne die anfänglichen Schroffheiten und Übertreibungen.
Natürlich spielen die Streicher weiterhin (fast zu) konsequent ohne Vibrato. Jede einzelne Phrase wird sorgfältig deklamiert, wobei vor allem die über die Partiturangaben deutlich hinausgehenden Binnenabstufungen der Dynamik mit ihren Schwerpunktsetzungen auffallen. Die kleine (darmbesaitete?) Streicherbesetzung führt dabei zu einer leichten Unterbelichtung der ersten Geigenstimme gegenüber den dominanteren Holzbläsern. Hier könnte man sich im Sinne der Kompositionsstruktur, in der den Primgeigen doch eine Führungsrolle zukommt, eine bessere Balance vorstellen. Der stetige Vorwärtsdrang vor allem in schnellen Sätzen lässt, bei streng durchgehaltenen Tempi, manchmal den Wunsch nach größerer agogischer Flexibilität aufkommen. Dass dieser historisch informierte Ansatz bisweilen der Gefahr eines gewissen Manierismus ausgesetzt ist, liegt wohl in seiner Natur. Insofern ist auch diese verdienstvolle Neueinspielung nur ein Vorschlag: So könnte es damals vielleicht geklungen haben. Aber vielleicht hat es ja auch ganz anders geklungen?
Arnold Werner-Jensen