Niccolò Paganini
The New Paganini Project
Caprices Vol. 1/Caprices Vol. 2. Niklas Liepe (Violine), Deutsche Radio Philharmonie, Ltg. Gregor Bühl
Im Booklettext versucht Arrangeur Andreas N. Tarkmann die Bearbeitungen von Paganinis Opus 1 einzuteilen in historische Klaviererweiterungen und zeitgenössische Arrangements mit traditioneller bzw. experimenteller Ausrichtung. The New Paganini Project reflektiert also in einem großen Bogen Adaptionen der berühmten Solostücke vom virtuosen Zeitalter bis zur Gegenwart. Man erlebt Paganinis Opus akkumulierend und verzinsend aus den Perspektiven seiner Bearbeiter. Durch die Orchestrationen dauern die Capricci etwa 45 Minuten länger und bleiben trotzdem erstaunlich kurzweilig.
Der junge Geiger Niklas Liepe erweist mit seiner ungewöhnlichen, intelligenten und dabei sehr musikalisch gedachten Auseinandersetzung Paganini eine bewundernswert authentische, fast selbstverleugnende Referenz, die sich selbstbewusst nicht am Wettbewerb der Eliten um Präzision und Geschwindigkeit beteiligen will.
Auf Basis der Originalnoten, die nicht verändert werden durften, und exemplarischer Klaviersätze von Robert Schumann, Fritz Kreisler, Adolf Busch und Karol Szymanowski folgten Zeitgenossen der Aufforderung Liepes, die Capricci in neue melodische, harmonische, klangfarbliche Gewänder zu hüllen. Mitwirkende waren unter anderem Andreas N. Tarkmann (sieben Beiträge), Gérard Tamestit, Claus Kühnl, Sidney Corbett und als einzige Komponistin im Projekt Andrea Csollány.
Das etüdenhafte Fortschreiten und die stabilen Tonfiguren der einzelnen Capricci erlaubten ganz unterschiedliche Näherungen, zusätzliche melodische Erfindungen und harmonische Fortschreibungen jener romantischen Arrangeure, die den gleichermaßen bewunderten und gescholtenen Paganini mit mehr qualitativer Substanz unterfüttern wollten. Herausgekommen ist nicht nur ein bemerkenswerter Mix von Arrangement-Techniken, sondern auch eine Folge verschiedener Genres zwischen anspruchsvoller Salonattitüde, moderner Verfremdung und Auszehrung. Dabei ist der Bonus-Track „Paganini-Jazz“ von Fazıl Say nicht einmal der am meisten zukunftsorientierte, mutet in dieser Suite sogar etwas anachronistisch an.
Mit großer Filmscore-Geste, gläsernen Klängen und rhythmischen Zusätzen wollen die neuen Arrangements Distanz zu den modulierenden Arabesken der Romantiker. Das Resultat wirkt trotz des etwas konstruierten Plans erfreulich unbefangen. Gregor Bühl holt die Lust an der Metamorphose aus der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern. Deshalb werden Paganinis Etüden hier zu einem Digest der Möglichkeiten orchestraler Klangrede heute. Opulent und ein bisschen kühl. Das ist vielleicht eine Pose, als habe man dezente Bedenken, sich allzu rückhaltlos dem „Gebrauchskomponisten“ Paganini auszuliefern. Unbestreitbar ist diese Einspielung ein Höhepunkt im aktuellen Trend zum Arrangement.
Roland H. Dippel