Bruckner, Anton
The Mature Symphonies  Symphony No. 6
 	Die Entwicklung von Daniel Barenboim als Bruckner-Dirigent ist schon recht erstaunlich und in vielen Aufnahmen gut dokumentiert. Neben zahlreichen anderen Einspielungen hat der große argentinisch-israelisch-spanisch-palästinensische Dirigent und Pianist (Originalzitat Wikipedia), der sich nicht unerheblich auch um die Völkerverständigung verdient gemacht hat, von 1990 bis 1997 alle Sinfonien mit den Berliner Philharmonikern aufgenommen. Nun legt er sukzessive DVD-Mitschnitte mit der Staatskapelle Berlin vor, deren Generalmusikdirektor er immerhin seit 1992 ist.
 	Jüngst ist die 6. Sinfonie A-Dur (entstanden 1879 bis 1881) erschienen, die zu Unrecht zu den weniger beliebten oder bekannten Bruckner-Sinfonien gehört. Zu Lebzeiten des Komponisten ist sie nicht in Gänze aufgeführt worden; die Uraufführung konnte erst 1899 und in der ursprünglichen Fassung gar erst 1901 posthum stattfinden.
 	Vergleicht man die alte und die neue Aufnahme der Sinfonie, so werden gewaltige Unterschiede offenbar: Für den ersten Satz braucht Barenboim jetzt eine Minute weniger, für den zweiten gar zwei Minuten. Das Scherzo hingegen nimmt er  ganz im Sinne Bruckners, der Nicht schnell darüber geschrieben hat  neuerdings etwas langsamer. Und lässt sich im Finale noch etwas mehr Zeit.
 	Frappierend ist aber unabhängig davon ein ganz neues Klangbild in der Einspielung mit der Staatskapelle: Barenboim lässt die Tempi jetzt fließen, kostet Steigerungen mehr aus, arbeitet Feinheiten sinnlich hervor. Die Blechbläser treten nicht mehr schroff hervor, sondern werden in den Gesamtklang integriert. Barenboim schließt gleichsam die Löcher, die Bruckners Klanggewebe in so vielen Aufnahmen ausmachen, und verabschiedet sich auch vom kathedralgleichen deutschen Bruckner-Sound. Er sucht den Mischklang (den sich freilich schon Karajan zu eigen gemacht hatte), lässt bisweilen fast kammermusikalisch aufspielen. Das ist am auffälligsten im Schlusssatz mit seinen Anspielungen auf Tristan und Isolde, die wirklich nach Wagner klingen  andere Passagen nähern sich der Weltvergessenheit Mahlers an. Barenboim ist als Bruckner-Dirigent ein großer Erzähler, der der Partitur ihre geheimen Geschichten entlockt, indem er die Betonblöcke zertrümmert, in die sie eingeschlossen sind.
 	Das klingt an der einen oder anderen Stelle fast zu leicht, zu rund und entspannt. Doch der Gewinn dieser neuen Barenboim-Lesart ist ungleich größer  zumal die Staatskapelle Berlin sich als Orchester von exorbitanter Qualität präsentiert. Wie ihr Chefdirigent das Ensemble innerhalb von
 	Sekundenbruchteilen von einem Fortissimo ins Pianissimo zurücktreten lässt, das schafft sonst nur der Regler einer Stereoanlage. Keinerlei Spielfehler oder Intonationsschwankungen trüben den Live-Mitschnitt, die Spannung und Präsenz ist im Gegenzug voll da. Wollte man eine Instrumentengruppe hervorheben, so könnte dies der Hornsatz sein mit einer traumhaften Sicherheit, Schlagkraft und Sensibilität.
 	Johannes Killyen


            
            
            