The Kristjan Järvi Sound Project Balkan Fever

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Naïve V 5395
erschienen in: das Orchester 11/2014 , Seite 73

Diese CD ist die Frucht einer Liveaufführung vom Januar 2013 aus dem Gewandhaus in Leipzig. Und genau darin liegt ihr Hauptproblem: Es zeigt sich nämlich wieder einmal, dass ein Liveerlebnis die Sinne ganz anders für sich vereinnahmt, als es die musikalische Konserve vermag! Die Menschen, die „dabei“ gewesen sind, waren völlig zu Recht begeistert. Für sie, die das Atmosphärische noch im Hinterkopf haben, ist diese CD sicher eine schöne und wertvolle Erinnerung an einen lebhaften Musikabend.
Der „Nur“-Hörer, dem dieser Hintergrund fehlt, kann nicht in ganz derselben Lautstärke applaudieren. Das geht schon bei dem ersten Musiktitel los, Enescus erster Rumänischer Rhapsodie: Das MDR  Sinfonieorchester spielt unter seinem Chefdirigenten Kristjan Järvi zweifellos sauber, präzise, absolut zuverlässig. Aber genau das ist der Knackpunkt. Ein rumänischer Musiker sagte mir einmal, man müsse Enescus Rhapsodien so spielen, wie sie bei einer (guten!) rumänischen Dorfkapelle klingen würden – eben nicht ganz so notengenau, mit ganz leichten Verzerrungen und Verwacklungen oder mit der Einführung beispielsweise einer Synkope auch mal dort, wo sie eben nicht notiert ist usw., kurz: aus dem Blut heraus. Die Mitteldeutschen spielen’s immer etwas „zu“: zu notengetreu, zu genau, zu „mitteldeutsch“ eben!
Bei allen anderen Stücken dieser CD handelt es sich um Adaptationen, die vielfach in ein Crossover aus authentischer Folklore, Jazz und sogar Rock münden. Das mag man mögen oder nicht. Hier sind für die Beurteilung die eigenen Hörgewohnheiten sicher nicht ohne Einfluss. Hervorstechendstes Soloinstrument ist der Kaval, jene hölzerne Flöte mit acht Löchern, die mit ihren möglicherweise rund 6000 Jahren zugleich eines der ältesten Musikinstrumente Europas darstellt.
Die größte Authentizität dürften wohl die beiden makedonischen Tänze Koljo und Kalajdzisko für sich in Anspruch nehmen, die von den drei Solisten, hier zum „Trio Improvisation“ vereinigt, ohne orchestrale Begleitung hinreißend intoniert werden. Auch die bulgarische Melodie Jovka Komarovka ist trotz Adaptation noch nah am Folk. Wie authentisch der Gipsy Dance ist, vermag ich nicht zu beurteilen – in dieser Version klingt er sehr nach „Riverdance“ (was natürlich auch nicht zu verachten ist!). Das hier versprochene Balkan-Fieber aber entpuppt sich insgesamt als eine nur leicht erhöhte Temperatur knapp unter 38° C, wo man sich
rasende 41° C gewünscht hätte.
Wer über das Hören hinaus daran interessiert ist, dem jeweiligen Original nachzuspüren, sieht sich durch die verbreitete und auch in diesem Begleitheft virulente Unart enttäuscht, die Titel nur in Englisch wiederzugeben. Eine Benennung wie Strange Occasion oder Fire Feast verrät dem Hörer leider weder die Geografie noch den Originaltitel der jeweiligen folkloristischen Vorlage.
Friedemann Kluge